Entwischt

Leider versäumte ich einen Termin mit Rainald Goetz. Das war nicht nur ärgerlich. Mein Fehler verfolgte mich bis in den Schlaf. Die Kolumne.
Die Kulturtechniken der Selbstbehauptung werden inzwischen derart routiniert eingesetzt, dass ein Gefühl wie Scham kaum noch eingestanden wird. Es ist jedenfalls schon eine Weile her, dass ich die Redewendung gehört habe, der zufolge jemand in den Boden versinken möchte.
Dabei sei Scham ein heißes Gefühl, schreibt der Soziologe Sighard Neckel in einer allerdings schon etwas älteren Studie über die „soziale Gestalt eines existenziellen Gefühls“. Scham sei rot, so Neckel, ein Signal. „Sie wühlt uns innerlich auf, weil sie uns nach außen hin sichtbar und durchlässig macht. Scham ist wie eine Wunde am Selbst.“
Und so verspürte ich doch so etwas wie dumpfen Schmerz, als ich unlängst einer Kollegin eingestehen musste, einen wichtigen Termin verschwitzt zu haben. Eben noch bereit zur Empörung, einen Auftritt des Schriftstellers Rainald Goetz nach dessen langer öffentlicher Abstinenz nicht der redaktionellen Beobachtung ausgesetzt zu haben, blieb diese mir im Halse stecken.
Ich hatte es selbst verbockt. Nach kurzer Suchabfrage fand ich eine Einladung in meinem E-Mail-Postfach, hatte diese jedoch übersehen. So blieb mir nichts anderes übrig, als neidvoll die Berichte in den anderen Blättern zu lesen.
Im Berliner Wissenschaftskolleg hatte Rainald Goetz die Zeitschrift als soziale Energie geheiligt, es fielen Worte wie Freude an Autorschaft, Hochdruck des Schreibens und dass man zum Verstehen anderer Menschen den realen Kontakt mit realen Körpern brauche. Es schien eine Art Hochamt des Feuilletons gewesen zu sein. Das Versäumnis, diesem nicht beigewohnt zu haben, schien kaum wieder gutzumachen.
In meiner Facebook-Blase entspann sich sogleich ein Disput, ob Rainald Goetz nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit Josef Ratzinger habe, und Dirk Knipphals bemängelte bei aller Sympathie für den Auftritt in der „taz“, dass Goetz in seiner Feuilleton-Wahrnehmung irgendwie in den 90er Jahren steckengeblieben sei. Aber mit Ironie und Kritik allein kam ich meinem Fauxpas nicht bei.
Er verfolgte mich sogar in den Schlaf. In der darauffolgenden Nacht träumte ich, dass Rainald Goetz sich bereit erklärte, mir exklusiv eine Privataudienz zu gewähren, die sich dann jedoch als Videoaufzeichnung aus den 80er Jahren entpuppte. Selbst mein Traum, so deutete ich träumend, schlug mir noch ein Schnippchen. Der authentische Goetz, er war mir schon wieder entwischt.
Oder kam er mir aus einer ganz anderen Zeit entgegen? In den letzten Tagen habe ich abends immer noch ein paar Seiten in den Tagebüchern von Michael Rutschky gelesen. Im März ist es fünf Jahre her, dass er gestorben ist. Der erste Band der Rutschky-Tagebücher, „Mitgeschrieben“, ist zugleich eine Art Porträt des Künstlers (Goetz) als junger Mann.
Rutschky war ein wichtiger Mentor des angehenden Schriftstellers Goetz, beim Ehepaar Katharina und Michael Rutschky ging er in München ein und aus. In einer Szene gibt Rutschky wieder, wie Goetz davon berichtet, wie er sich den Verlegern Siegfried Unseld und Reinhold Neven DuMont gegenüber derart abwehrend verhalten habe, als solle sein Buch, der Roman „Irre“, lieber gar nicht erscheinen. Rainald Goetz, so Rutschky, haderte mit seinen Fluchtimpulsen. Kein Zufall also, dass er mir selbst im Traum entwischt war.
Harry Nutt ist Autor.