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Entschuldigung, Luisa Neubauer

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Von: Harry Nutt

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Luisa Neubauer, Klimaaktivistin, am Rande der Abbruchkante am Tagebau Garzweiler II. Lützerath soll zur Erweiterung des Braunkohletagebaus Garzweiler II abgebaggert werden.
Luisa Neubauer, Klimaaktivistin, am Rande der Abbruchkante am Tagebau Garzweiler II. Lützerath soll zur Erweiterung des Braunkohletagebaus Garzweiler II abgebaggert werden. © Christoph Reichwein/dpa

In dem akuten Kampf der Klimabewegung sind Einsicht und Zögerlichkeit nicht vorgesehen. Die Kolumne.

In den späten 70er Jahren hätte sich vermutlich kein Kernkraftgegner dazu verleiten lassen, von Gorli oder Broki zu sprechen, Niedlichkeitsformen für das im Bau befindliche Kernkraftwerk Brokdorf oder das geplante Endlager Gorleben im idyllischen Wendland. Tatsächlich ergaben die Stecknadeln auf einer Karte Westdeutschlands so etwas wie eine innere Landkarte des Protests. Wackersdorf, Grohnde und Wyhl am Kaiserstuhl wurden, so würde man heute sagen, symbolisch markiert. Zugleich verwiesen die Orte der westdeutschen Provinz auf ein alternatives Milieu, in dem viele bereit waren, dem Staat die Zähne zu zeigen. „Wehrt Euch, leistet Widerstand …“ Gesungen wurde die Zeile zur Melodie eines Kinderliedes: „Hejo, spann den Wagen an“, ein Kanon. Die Anti-AKW-Bewegung gab sich radikal, legte aber Wert auf volksnahe Rückbesinnung.

Die Bezeichnung Lützi für das Dorf Lützerath hat mich in den vergangenen Wochen eher unangenehm berührt. Die Infantilisierung von politischen Zielen ist nicht neu, tatsächlich wiesen die Proteste gegen die Abbaggerung von Lützerath viele Parallelen zur Stimmung in den späten 70er Jahren auf.

So unsinnig und fahrlässig ich es heute finde, dass junge Menschen sich in einem unterirdischen Tunnelsystem verbarrikadieren, ruft es doch Erinnerungen an Weggefährten wach, die ebenfalls zu allem entschlossen waren.

Angesichts der Klimaproteste war zuletzt oft von Radikalisierung die Rede, das Wort Klimaterroristen hat es sogar zum Unwort des Jahres gebracht. In den bundesrepublikanischen Bewegungsjahren war Radikalität positiv konnotiert, „radical chic“ gehörte zur habituellen Grundausstattung. Wer sich dem entzog, entwickelte leicht Schuldgefühle ob seiner Feigheit. Es gibt nicht wenige Biografien von Zeitgenossen, in denen Mutproben tatsächlich in den RAF-Terrorismus abglitten.

Rund 45 Jahre später fällt es mir schwer, Luisa Neubauer die Anerkennung für ihre beharrliche Klimapolitik zu verweigern. Sie ist das Gesicht des Widerstands, ein bisschen Jeanne d’Arc, ein bisschen Romy Schneider. Härte und Verletzlichkeit. Sie weiß um ihre enorme rhetorische Begabung, und ein erfahrener Politiker wie der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul ist sich bei Talkshow-Konfrontationen dessen bewusst, dass nichts schlimmer wäre, als ihr gegenüber herablassend oder altväterlich paternalistisch zu erscheinen.

Selbst wenn Neubauer und ihresgleichen der Anflug einer Irritation erreichte, dass sie womöglich falschliegen, so würden sie es doch nicht bekennen. In ihrem akuten Kampf sind Einsicht und Zögerlichkeit nicht vorgesehen.

Bei aller Sympathie für so viel Entschlossenheit frage ich mich, ab wann in dem Alternativmilieu, in dem ich politisch sozialisiert worden bin, ein staatsbürgerliches Bewusstsein gereift ist, das so verpönte Dinge wie Kompromisse und Rechtsempfinden nicht nur hingenommen, sondern auch schätzen gelernt hat? Es hat vermutlich sehr viel mit dem nachholenden kulturellen Wandel der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer zu tun. Vielleicht war nicht alles schlecht in dieser kurzen Schröder-Ära.

Entschuldigen Sie die ollen Kamellen, Luisa Neubauer. Sie haben leider nicht so viel Zeit.

Harry Nutt ist Autor.

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