Edel und gut

Es gibt eine große deutsche Stadt, mit der man gnädig umgehen sollte. Auch wenn dort erneut gewählt werden muss. Die Kolumne.
Eigentlich erzähle ich das ja nicht so gerne. Aber was soll’s, es muss mal raus. Ich beobachte nämlich seit früher Kindheit einen Reflex bei mir, den man – ohne mich sonderlich loben zu wollen – als edelmütig bezeichnen kann. Er ist offensichtlich angeboren, steckt tief in mir drin. Deswegen kann ich mir auch wenig darauf einbilden. Schließlich habe ich ihn mir nicht erarbeitet, sondern zwangsläufig mitgenommen ins Leben.
Dort aber erwies er sich nur selten als Segen. Er ist so etwas wie ein kleiner Eisbär. Den finden alle süß und knuddelig. Als Haustier aber will ihn niemand haben, weil er stinkt und einem außerdem zuerst die Haare vom Kopf und später womöglich das Kinderzimmer leer frisst.
Die Rede ist von etwas, das üblicher- und unnötigerweise im täglichen Sprachgebrauch mit dem Zusatz „ausgeprägt“ versehen wird – von einem Sinn für Gerechtigkeit. Sie werden nun stutzen und sich wundern und fragen, was daran denn von Übel sein könnte.
Ich hingegen erinnere nur an das Beispiel Eisbär und füge zudem an: Auch Robin Hood hat es nicht immer einfach gehabt. Er wurde zwar von den Armen geliebt, von den Reichen hingegen verteufelt – denn ihnen mopste er schließlich immerfort ihr Hab. Doch die waren und sind dummerweise nicht nur im Sherwood Forest die Bestimmer und bedienen den längeren Hebel. Also hatte der gute Robin zwar viele Freunde, doch seine wenigen Feinde waren die falschen. So tut es nicht Wunder, dass er einem Verrat zum Opfer fiel und anlässlich eines Aderlasses jämmerlich verblutete.
Es ist also kein leichtes Los, sich immer dem Pfad der Gerechtigkeit verpflichtet zu fühlen. So gibt es in einem Pirmasenser Fußballverein heute noch Menschen, deren Mienen sich verdüstern, sobald mein Name fällt. Hatte ich doch einmal bei einem Pokalspiel ungefragt dem Schiedsrichter gesagt, dass der Ball die Torlinie überschritten hatte. Dummerweise war es unser Tor, außerdem in der letzten Minute eines Pokalendspiels, das wir obendrein durch mein Geständnis 0:1 verloren.
Das begab sich zwar vor mehr als einem halben Jahrhundert, und ich war gerade mal sieben. Aber Ehrlichkeit verjährt offensichtlich nicht und beschert einem manchmal Feinde fürs Leben. Doch ich kann halt nicht anders, so auch jetzt. Ich muss nun endlich mal eine Lanze brechen – und zwar für Berlin. Jawohl. Sie werden sich wundern. Maulte ich doch jahrzehntelang mit im Chor der Mäkler, bemängelte Überheblichkeit, Großkotzigkeit und Unzulänglichkeit selbst bei den einfachen Dingen des täglichen Lebens.
Will man etwa seinen Ausweis verlängern, muss man dafür Urlaub nehmen, der Bau eines Flughafens dauerte fast so lange wie jener des Kölner Doms, ein Fußballverein wird geführt wie eine Dorfmannschaft und dann noch „Big City Club“ genannt (was in der Wahrheit der Bonner SC ist), und nun muss sogar wegen organisatorischer Dusseligkeit eine Wahl wiederholt werden. Schande? Nein. Ich sage: Seid gnädig. Im Grunde ist die Stadt knorke. Berlin kann nichts dafür, dass immer wieder Provinzler dorthin ziehen und Weltstadt spielen wollen.
Deswegen ein Tipp für Touristinnen und Touristen: Fahrt zuerst für einige Tage nach Stuttgart, dann weiter nach Berlin – und Ihr werdet alles verstehen und unsere Hauptstadt wonnig umarmen.
Michael Herl ist Autor und Theatermacher