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Kolumne
Freiheit kann sich nicht nur am Rat der Virologie orientieren
- vonRichard Mengschließen
Weil es nun auch beim Impfen noch hakt, beim einzig echten Ausweg also, wird der Wettlauf mit der Zeit immer quälender. Die Kolumne.
Die Gewissheiten wanken, auf allen Seiten. Wie es mit Corona weitergeht, ist wieder unsicherer geworden. Die Wissenschaft rätselt über die Mutanten. Die Politik diskutiert Öffnungsbedarf und schreckt doch vor konkreten Plänen zurück. Die Wirtschaft ist wieder nervös. Die EU findet nicht einmal exakt heraus, wo das Problem liegt bei den Impfstoffproblemen.
Es ist eine ungemütliche Unübersichtlichkeit ausgebrochen, wo rund um Weihnachten eher Hoffnung war. Dünnes Eis. Abwarten wieder klügstmögliche Strategie. Und das in einer Lage, in der Nerven und viele Kontostände immer blanker werden.
Die Konsequenz, das Defensivspiel, nervt doppelt. Erst brechen allerlei Lockerungsforderungen für die Zeit nach dem 14. Februar durch, interessanterweise besonders stark bei der basissensiblen CSU – und schleunigst werden sie von oben wie mit der Fliegenklatsche aus dem Spiel gehauen. Erst traut sich ausgerechnet der so lockdownergebene Kanzleramtschef Helge Braun, die Folgen seines Tuns durch eine grundgesetzliche Aufweichung der Schuldenbremse abzufedern – und schon grätscht die Unionsfraktion dazwischen.
Denjenigen, die entscheiden müssten, fehlt plötzlich wieder die Kompetenz zur Beurteilung der Lage. Den Länderchefinnen und -chefs setzt die Kanzlerin gerne lockdownfordernde Wissenschaftler als Moralbeeinflusser vor. In der Bildungspolitik sind viele trotzdem für schnelle Wiederöffnung, aber immer noch kann niemand zweifelsfrei sagen, ob und wie stark Kita und Schule nun Infektionstreiber sind oder nicht.
Selbst die logische Forderung, sich auf nachvollziehbare Öffnungsschritte je nach Inzidenzzahl festzulegen, wird zu billig: weil niemand weiß, wie ansteckend das Virus gerade ist. Erst recht nicht, wie ansteckend in ein paar Wochen. Aber davon hängt ab, was halbwegs gefahrlos geht. Seit die Mutanten unterwegs sind, löst sich alle Strategie im Nebel auf. Vorsicht, Gefahr: Der Demokratie fehlen damit die nötigen, nachvollziehbaren und rationalen Maßstäbe.
Weil es nun auch beim Impfen noch hakt, beim einzig echten Ausweg also, wird der Wettlauf mit der Zeit immer quälender. Und das verstärkt das Dilemma, ab wann Geimpfte Freiheitsrechte bekommen. Falls sie eindeutig nicht mehr ansteckend sind: hoffentlich sofort. In diesen Tagen ist nichts mehr eindeutig. Aber Hans-Jürgen Papier, der Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat recht: Die Menschen sind keine Untertanen. Der Freiheitsschutz kann sich nicht ausschließlich am Rat der Virologen orientieren.
Schon gar nicht können Freiheitsrechte aus purer Vorsorge - davon sprach die Kanzlerin - kassiert werden, wenn nicht belastbare Fakten vorliegen, dass Vorsorge genau so zwingend nötig ist zum Lebensschutz. Womit wir wieder bei der (Nicht-)Belastbarkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den gerade neuesten Virus-Mutanten wären. Vorsicht, Gefahr: gesundheitlich wie gesellschaftlich.
Wenigstens dass der Gesundheitsminister recht spät jenes Trump-Medikament bestellt hat, das offenbar schwere Krankheitsverläufe mindert, kann man als Lernpunkt werten: Warum nicht endlich ein Strategiewechsel, der statt der wenigsagenden Inzidenzzahl und der Fata Morgana Kontaktnachverfolgung die Senkung der Zahl der Schwerkranken und Verstorbenen zum Maßstab macht? Sie ist unerträglich hoch, auch im Vergleich zu fast allen Nachbarländern.
Da ist das eigentliche, sträflich oft ignorierte Versagen. Wenigstens da müsste noch mehr Entschiedenheit sein, beim Schutz der Älteren und der Altenheime. Gerade auf dünnem Eis gilt: Bewegung bitte da, wo es am meisten hilft.
Richard Meng ist freier Autor und Kuratoriumsvorsitzender der Karl-Gerold-Stiftung.