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Die Zeitenwende rückwärts

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Von: Richard Meng

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Was hilft, die Tunnelperspektive aufzubrechen?
Was hilft, die Tunnelperspektive aufzubrechen? © Marijan Murat/dpa

Die Lügen im Kopf verhindern nicht nur im Krieg den klaren Blick auf Realität und Entscheidungen. Die Kolumne.

Dass die Wahrheit in Kriegszeiten zuerst stirbt, ist mehr als ein Sprichwort. Wie sehr der Satz stimmt, lässt sich täglich beobachten. Was wirklich passiert in der Ukraine, kann niemand mehr objektiv beurteilen. Und wenn Krieg ist, haben Propagandalügen freies Feld. So weit, so bekannt. Aber es gibt da noch eine zweite, damit verwandte Frage, nämlich die nach der persönlichen Wahrheit, der im Kopf.

Im Krieg, wir erleben es in Russland und abgeschwächt auch in der Ukraine, entstehen sehr eindimensionale Wahrheiten. Denkweisen, Glaubenssätze orientiert am jeweiligen Umfeld. In der totalen emotionalen Herausforderung betrachtet niemand sich die Lage von außen. Unbeteiligtsein gibt es nicht mehr. Der Anpassungsdruck wird allseits riesig, nicht nur für direkt Beteiligte. Und Kriegsherren haben immer mit diesem Mechanismus gespielt.

Auch weil sich die Lügen in den Köpfen festsetzen, hat so mancher Krieg viel länger gedauert als bis zu dem Punkt, an dem militärisch alles klar war. Das ist die Stelle, an der die Kriegsexperten immer davon sprechen, dass erst reale Kriegsmüdigkeit entstehen muss, bevor ernsthaft verhandelt werden kann.

Es ist ein furchtbarer Mechanismus, aber er ist alles andere als lebensfremd. Es gibt Gefühlsgewohnheiten, Einordnungsschemata – wo immer Leute versuchen, sich einen Reim zu machen. Erfolgreiche Propaganda arbeitet mit diesen Vorprägungen. Warum es wichtig ist, diesen Zusammenhang zu sehen? Es hilft, das Undenkbare zu verstehen, die Tunnelperspektive bei Gerechten wie Ungerechten.

Die Millionen in Russland, die hinter dem Krieg des Potentaten eine gute großrussische Sache sehen, sind mitschuldig durch unterlassenen Widerstand, damit aber nicht automatisch schlechte Menschen. Sie identifizieren sich oder tolerieren mindestens eine Kriegserzählung, die Lüge ist – und sei es aus Scheu vor der Abweichung. Sie lassen die national-reaktionäre Perspektive als ihre eigene zu.

Ganze Forschergenerationen haben zu ergründen versucht, wie und warum zu Beginn des ersten Weltkriegs so viel naive Begeisterung möglich war, wie und warum während des Hitlerfaschismus aus den Deutschen ein Tätervolk werden konnte. Bei all ihren interessanten Theorien blieb am Ende ungläubiger Zweifel: Wie konnte das wirklich so gewesen sein? Unterstellt immer: In der modernen Informationswelt ist das letztlich doch nur eine alte, vorzeitliche Erzählung.

Falsch. In manchem ist es nun wieder so, wenn man die Mechanismen hinter der Realität betrachtet. Die Lüge funktioniert immer noch. Bei den Angegriffenen führt der Krieg zur Fokussierung allen Denkens im Jetzt und Heute. Mag dort wirklich irgendwo schon jemand ernsthaft über die Kompromisse der Zukunft nachdenken? Im offiziellen Kiew jedenfalls nicht, wie die Träumerei von der Rückeroberung der Krim zeigt, mit der ja handfeste Erwartungshaltungen produziert werden. Gezielt, Widerspruch ins Unrecht setzend.

Der Krieg verstärkt auch in den Köpfen die Fronten. Und die typisch deutsche, medial mutwillig angefeuerte Debatte, wer nun wessen Sieg wünscht oder das Wort gewinnen meidet, war da vor allem eines: ein Mit-Wegtauchen vor der eigentlichen Herausforderung, die darin liegt, statt militärischer Siegesrhetorik irgendwann einen Weg zum Schweigen der Waffen zu finden.

Vernunft wirkt manchmal ziemlich irreal, wenn die Wahrheit stirbt. Falsche Wahrheiten in den Köpfen beeinflusssen noch lange hartnäckig das Denken. Das ist es, was im doppelten Sinn so betroffen macht, mitten in dieser Zeitenwende rückwärts.

Richard Meng ist freier Autor, Kuratoriumsvorsitzender der Karl-Gerold-Stiftung und Chefredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte.

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