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Die Flut als Wendepunkt

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Von: Maren Urner

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Wir konnten uns nicht vorstellen, wie schnell auch uns das Wasser bis zum Hals stehen kann.

Am Sonntag nach der Flutkatastrophe steht Angela Merkel am Rednerpult in der Ortsgemeinde Schuld im rheinland-pfälzischen Landkreis Ahrweiler. Fast friedlich wirkt die Szene, in der die Bundeskanzlerin mit schwarzer Strickjacke von den Sonnenstrahlen geblendet ihre Anteilnahme zum Ausdruck bringt.

Ungefähr zeitgleich sitze ich im Zug und nehme Gesprächsfetzen meiner Mitreisenden wahr, die sich Bilder aus Erftstadt, Bad Münstereifel, Hagen und – seit der vergangenen Nacht auch – dem Berchtesgadener Land auf ihren Smartphones anschauen. „Solche Bilder sind nicht Deutschland!“ „Unglaublich!“ Eine Mutter versucht, ihren Kindern zu erklären, dass die Bilder tatsächlich aus der Nachbarschaft stammen.

„Das hat unsere Vorstellungskraft gesprengt, wir suchen immer noch nach einem richtigen Namen; Katastrophe trifft es nur teilweise.“ So beschreibt Andreas Geron, Bürgermeister der stark betroffenen Stadt Sinzig, die Überforderung in einer Talkshow.

Was ist hier los? – Ich meine nicht mit Blick auf den Ausnahmezustand in den Dörfern und Städten, meine nicht die Statistiken zu Toten, Verletzten und Obdachlosen, sondern den Zustand in unseren Köpfen. Ich denke, eine Antwort gefunden zu haben, die sich in einem Wort zusammenfassen lässt: Vorstellungskrise.

Der Versuch von Angela Merkel, sich ein „reales Bild“ der „surrealen Situation“ machen zu wollen, wie sie es ausdrückte, bringt unsere Vorstellungskrise perfekt auf den Punkt. Wir konnten uns nicht vorstellen, wie schnell auch uns das Wasser im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Hals stehen kann. Selbst nach den Hitzesommern 2018 und 2019 mit Tausenden Toten konnten – und wollten – wir uns nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, die Klimakrise im eigenen Land und am eigenen Leib zu spüren.

Warum? Weil die Bilder der Waldbrände in Australien und USA, die Eisbären auf schmelzenden Schollen und die im Meer versinkenden Inselstaaten doch stets „weit weg“ waren und sind. Unser Gehirn reagiert auf Gefahren und Veränderungen, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: Wenn wir örtlich, zeitlich und sozial stark betroffen sind – mit anderen Worten: Wenn wir etwas begreifen können. Genau das ist Anfang Juli passiert.

Und nun? Sind wir der Vorstellungskrise beziehungsweise gewisser Funktionsweisen unseres Gehirns hoffnungslos ausgeliefert? Nein! Denn wir brauchen nicht nur neue Bilder und Wörter für Wetterextreme und deren Folgen, sondern vor allem für eine gemeinsame Gegenwart und Zukunft, in der die Klimakrise längst angekommen ist. Damit das gelingt, müssen wir nur eines tun: die Vorstellungskrise als Chance nutzen. Erinnern wir uns an die ursprüngliche Bedeutung des Krisenbegriffs: Ihren Einzug in die deutsche Sprache fand die Krise im medizinischen Kontext als „Entscheidung“ oder „Wendepunkt“, bei dem nach gutem Krankheitsverlauf die Besserung einsetzte.

Also: Lasst uns die Flutkatastrophe als Wendepunkt annehmen, an dem wir begriffen haben, dass unsere Vorstellungen von Sicherheit, Normalität und Fortschritt ein Update benötigten. Lasst uns gemeinsam mutig neue Geschichten von Erfolg, Freiheit und Glück erzählen. Geschichten, die nicht auf dem Irrglauben beruhen, die Klimakrise gehe uns nichts an. Geschichten, die nicht auf einer Geld-gleich-Glück-Fantasie basieren oder der Fehlannahme eines unendlichen Wachstums in einer endlichen Welt. Lasst uns John Lennons „Imagine“ als Einladung verstehen, um uns neue Bilder einer guten Zukunft für möglichst viele Menschen vorzustellen, um sie dann real werden zu lassen.

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