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Die Defizite der Nachbarn

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„Ein einziger Tag richtigen Streiks im eigenen Land wird als Zumutung empfunden, Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, die auch ansonsten verstopfte Straßen sperren, zur Gefahr fürs Gemeinwesen stilisiert.“
„Ein einziger Tag richtigen Streiks im eigenen Land wird als Zumutung empfunden, Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, die auch ansonsten verstopfte Straßen sperren, zur Gefahr fürs Gemeinwesen stilisiert.“ © Sina Schuldt/dpa

Hierzulande begeistert man sich für den demokratischen Aufbruch - in anderen Ländern. Die Kolumne von Leo Fischer.

Mit der Demokratie in Deutschland ist es kompliziert. Ganz abstrakt hält man sie für eine gute Sache – von ihrer praktischen Umsetzung ist man aber ungern betroffen. Auch historisch war sie ja eher etwas, was für einen eingerichtet wurde; die Alliierten waren quasi der Ikea-Montageservice der Demokratie.

Seither begeistert man sich vor allem für den demokratischen Aufbruch in anderen Ländern - da kann es gerne schön rabiat zugehen. Brennende Barrikaden, geschlossene Konzernzentralen, Massenproteste auf den Straßen! Da nickt man in Deutschland paternalistisch mit dem Kopf: Jawohl, so geht das, zeigt es denen da oben mal ordentlich!

Man lobt die Franzosen – die können noch ordentlich streiken, die lassen sich nicht die Butter vom Baguette nehmen! Ein einziger Tag richtigen Streiks im eigenen Land hingegen wird als Zumutung empfunden, und Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, die auch ansonsten verstopfte Straßen sperren, zur Gefahr fürs Gemeinwesen stilisiert.

Demokratie ist etwas für andere Länder – hierzulande wurde sie ja schon erfolgreich eingeführt. Akribisch werden die Defizite anderswo auf der Welt registriert, oft weiß man auswendig, wie niedrig ein Land im Pressefreiheits-Ranking abschneidet oder wie lange Oppositionelle unter Hausarrest stehen.

Die Attitüde ist die des Musterschülers: Deutschland hat seine Hausaufgaben gemacht! Dass die Bundesrepublik in den Pressefreiheits-Rankings gar nicht mal mehr so gut dasteht, ja sogar eher im Sinken begriffen ist, fällt gerne unter den Tisch. Die gescheiterte Volksabstimmung in Berlin zum verbesserten Klimaschutz fiel ebenso unter den Tisch, das Medienecho ist gleichgültig bis heiter.

Hätte ein ähnlicher Volksentscheid in beispielsweise New York stattgefunden, wäre genüsslich das Versagen der US-Demokraten geschildert worden, die Macht des konservativen Establishments, der Fossil- und Immobilien-Lobby, die Politikverdrossenheit und die Unfähigkeit zur Solidarität in einem durchkapitalisierten Gemeinwesen.

Nicht zuletzt hätten die Kommentatorinnen und Kommentatoren die Absurdität eines Volksentscheids in einem Bundesstaat betont, dessen Gouverneurin sich nicht an Volksentscheide hält und deren Plagiatsaffäre nie aufgearbeitet wurde. Aber weil es nur um Berlin geht und nicht um New York, weil die Gouverneurin der ollen Tante SPD angehört und weil man ja insgeheim Volksentscheide für nicht so wahnsinnig wichtig hält hierzulande, ist das alles kein Beinbruch.

Und wie sollte es auch? Das Quorum wurde nicht erreicht! Was ist schon eine Mehrheit? Wenn es der Klimaaktivismus nicht schafft, Quoren zu erreichen, hat er sich disqualifiziert! Was ist schon eine halbe Million Jastimmen, wenn es ja auch fast ebenso viele Neinstimmen gibt?

Und überhaupt, was ist eine Wahl in Berlin schon wert, im Zweifel muss sie eh wiederholt werden! Das schöne Geld, das für Stimmzettel und Wahlhelferinnen und Wahlhelfer ausgegeben wurde, hätte doch viel besser in Runde Tische, Ausschüsse und Kommissionen investiert werden können. Die hätten dann herrlich ihre Runden gedreht und am Ende einen wundervollen Bericht geschrieben! Stattdessen macht man die Leute wieder mit Demokratie nervös – als gäbe es davon zu wenig.

Nein, die Demokratie in Deutschland ist ein hohes Gut. Wie das feine Porzellan im Wohnzimmerschrank soll sie nur zu wichtigen Anlässen hervorgeholt und mit spitzen Fingern angefasst werden, am besten, wenn Gäste da sind. Eine Demokratie, bei der Dinge schmutzig oder kompliziert werden, wäre schließlich auch keine deutsche.

Leo Fischer ist Autor, Stadtrat in Frankfurt (Ökolinx) und war Chefredakteur des Satiremagazins „Titanic“.

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