Die Bilder meiner Mutter

Dokumente vom Leben im Pflegewohnheim, vom Leid auf der Intensivstation: Die Fotos sollten der Verdrängung entgegenwirken. Nun sind sie gelöscht. Die Kolumne.
Der Verlust wiegt schwer, und es gibt keine Entschuldigung. Ich habe es versäumt, rechtzeitig die Bilder zu sichern. Über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren habe ich mit der Kamera meines Mobiltelefons die Anwesenheit meiner Mutter in einem Berliner Pflegewohnheim dokumentiert. Immer wieder habe ich sie fotografiert, meist mit ihrem Einverständnis, manchmal ohne. Nach einem Sturz aus dem Bett, nach einer Operation im Krankenhaus.
Schon während der Entstehung einiger Aufnahmen war ich mir der Intimitätsverletzung bewusst. Ich mache es ja nur für mich, versuchte ich mir einzureden. Niemand würde diese Fotos zu Gesicht bekommen. Das schlechte Gewissen, meine Mutter in Augenblicken unermesslicher Schwäche abzubilden, ließ sich kaum vertreiben. Ein Foto zeigte sie auf der Intensivstation, mit Schläuchen in der Nase. So, war ich mir sicher, hätte sie nicht gesehen werden wollen. Ich bewahrte die Bilder aus dokumentarischen Gründen auf. Ich will die Augenblicke ihres Leidens festhalten, so sagte ich mir, um sie vor den Mechanismen der Verdrängung zu bewahren.
Ein Foto zeigte sie mit 98 Jahren auf einer Kinderschaukel
Einige der Aufnahmen zeigten meine Mutter mit leerem, ausdruckslosem Blick. Sie hat ihr Leben gelebt, ihre Augen signalisierten, keine weiteren Botschaften mehr senden zu wollen. Auf anderen wiederum strahlte sie eine unbändige Lebenslust aus, ein Foto zeigt sie im Alter von 98 Jahren auf einer Kinderschaukel, von meinem Bruder gehalten, beim Schwungholen.
Beim Anblick der Schaukel hatte sie den Wunsch geäußert, es noch einmal zu tun. Alles, so sagte uns dieses Foto, ist möglich. Selbst in der Phase des Verschwindens, die durch die fortschreitende Demenz klar vorgezeichnet war, schien es so etwas wie Laune, Gelassenheit und Zuversicht zu geben. Die Schaukel war nicht nur das Symbol für die Aufwärts- und Abwärtsbewegungen des Lebens, sie schien auch zum Ausdruck zu bringen, dass man bloß in die Glieder der Kette greifen muss. Von unserer Mutter haben wir gelernt, dass vom Tod trotz aller Grimassen, die er zieht, kein Schrecken ausgehen muss.
Sie hat sich ihre Freiheit bis zuletzt bewahrt
Nun sind die Bilder verschwunden, durch eine dumme Handhabung meines Mobiltelefons sind sie für immer verloren gegangen – nicht weg, aber nicht mehr zugänglich. Ich habe sie nicht gesichert, eine Unachtsamkeit, die ich mir vorwerfe, nicht verhindert zu haben. Solange ich das Handy mit mir herumgetragen habe, war ich mir der Gegenwart der Bilder gewiss. Ich habe sie mir oft angesehen, Bilder, die schonungslos den Verfallsprozess einer alten Frau wiedergeben. Auf einigen ist sie in sich versunken, auf anderen wirkt sie beinahe jugendlich. Eins der Fotos zeigte sie mit meiner Ray-Ban-Sonnenbrille als coole Alte. Fotos mit ihrer Nichte Teresa zeigen sie als stolze Oma, die in der Gegenwart der nächsten Generation sichtlich auflebt.
Aus den Bildern, die ich aus purer Dummheit, vielleicht auch aus koketter Lässigkeit verloren habe, erwächst mir nun der Auftrag, sie in der Sprache abzubilden. Sie sind ja noch da, sie haben sich mir ins Bewusstsein gebrannt, und indem ich von ihnen erzähle und sie beschreibe, so bilde ich mir ein, entlasse ich sie in die Freiheit. Ihre, die sie sich bis zuletzt bewahrt hat. Und meine, die sich trotz des fortgeschrittenen Alters noch beweisen muss. (Harry Nutt)