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Deutsche Schuld

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Von: Harry Nutt

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„Über Gräbern weht der Wind“: Männer heben ein Grab aus, um die Leiche eines Opfers der Kämpfe am Stadtrand von Mariupol in der Ukraine zu begraben.
„Über Gräbern weht der Wind“: Männer heben ein Grab aus, um die Leiche eines Opfers der Kämpfe am Stadtrand von Mariupol in der Ukraine zu begraben. © Alexei Alexandrov/dpa

Haben wir mit Blick auf die Ukraine neue Schuld aufgetürmt, weil wir zu lange rituell die alte bearbeitet haben? Die Kolumne.

Seit ein paar Wochen wird die Frage nach der deutschen Schuld ganz neu gestellt. Haben wir mit Blick auf die Ukraine neue Schuld aufgetürmt, weil wir zu lange rituell die alte bearbeitet haben? War demnach die Formel des „Nie wieder“ kaum mehr als eine wohlfeile Haltung, hinter der man es sich allzu bequem gemacht hat? Und wer ist überhaupt „wir“, wenn man es nicht dabei belassen will, kopfschüttelnd auf Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder zu blicken?

Vor ein paar Tagen begegnete mir im Traum mein Vater. Er war operiert worden und rief mir etwas Unverständliches zu. Schlafreste, die nach dem Aufwachen nicht leicht in eine Erzählung zu bringen sind. Dabei ist es durchaus naheliegend, dass mein Vater 30 Jahre nach seinem Tod durch meine Träume geistert.

Die Friedhofsverwaltung des Ortes, an dem ich aufgewachsen bin, hat uns unlängst darüber in Kenntnis gesetzt, dass seine Grabstätte im Sommer erlischt. Wir haben beschlossen, den Familiengrabstein nach Berlin zu holen, wo unsere Mutter beerdigt ist.

Eine Familiengeschichte? Nicht nur. Mein Vater war 26, als er in die Wehrmacht eingezogen worden war und kurz darauf in den Krieg geschickt wurde. Er, von Beruf Molkereimeister, erwarb den Rang eines Gefreiten. Mit 36 kehrte er aus sowjetischer Gefangenschaft zurück, zehn Jahre seines Lebens ein missing link.

Aber natürlich waren sie ein Teil seiner, ein Teil unserer Geschichte. Man könnte die Traumsequenz als generationsspezifisches Misslingen der Kommunikation zwischen Vätern und Söhnen deuten.

In der Nachkriegsliteratur finden sich Hunderte von Erzählungen über ein fatales Schweigen, aber so war es in unserem Fall nicht. Immer wieder hat mein Vater versucht, über seine Erlebnisse zu berichten. Wir wollten nicht. Fußball, Pop, Reisen, für uns gab es Wichtigeres.

Als wir mit 16 oder 17 per Interrail in andere Länder aufbrachen, winkte er unwillig ab, sich mit unseren Berichten abzugeben. Er sei lange genug in der Fremde gewesen. Trauma? Hass auf die Russen? Eher nicht. Die hatten auch nichts, lautete wiederholt seine knappe Erklärung, wenn die Rede auf die Verhältnisse in den Gefangenenlagern kam.

Und doch sind mir einige Orte – Smolensk, Riga – als Marksteine einer Familienchronik im Gedächtnis geblieben, zu denen ich mir nicht einmal die Mühe gemacht hatte, mich ihrer Lage auf einer Karte zu vergewissern.

War er an Verbrechen der Wehrmacht beteiligt? Wir wissen es nicht. Mein älterer Bruder erinnert sich an ein Gespräch über das Massaker von Katyn, ein Dorf, etwa 20 Kilometer entfernt von Smolensk, wo über 4000 polnische Gefangene in einem Waldstück erschossen worden waren.

Das waren wir nicht, hatte mein Vater beteuert, lange bevor historisch als gesichert galt, dass die Ermordungen vom sowjetischen NKWD und nicht von der Wehrmacht begangen worden waren. Das inzwischen verfügbare Wissen über die mörderische Gewalt von Katyn war erst nach dem Tod meines Vaters zutage getreten.

„Über Gräbern weht der Wind“, heißt es in dem Lied „Sag mir wo die Blumen sind“, das Marlene Dietrich, Pete Seeger und viele andere gesungen haben. Vielleicht erklingt das Lied mit ukrainischem Ursprung auch in Charkiw und Mariupol, wo massenhaft neue Gräber ausgehoben werden. Dabei erzeugen die alten noch unruhige Träume.

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