Das Wundermittel Pazifismus hilft nicht

Angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine geraten grundsätzliche Werte ins Wanken. Sollten wir uns dermaßen geirrt haben?, fragt FR-Kolumnist Michael Herl.
Eigentlich geschieht ja seit einigen Jahren so einiges, von dem man sich vor einigen Jahren nie hätte vorstellen können, dass es jemals geschehen könnte. Das klingt nach Abwechslung, nach Esprit und neuen Horizonten – fühlt sich aber leider nicht so an. Und noch immer ist längst nicht klar, was das alles mit uns machte und noch machen wird.
Ein Hauptereignis war natürlich die Pandemie mit all ihren Begleiterscheinungen. Lockdown, Lieferengpässe, Kneipensterben, Homeoffice, Querdenkerei und Maskenpflicht sind da nur einige Stichwörter. Das meiste davon ist vorüber.
Geblieben jedoch sind Langzeitfolgen, und zwar nicht nur medizinische. Ein Beispiel sind Brüche in Familien und Partnerschaften, die mit dem Ende der Seuche längst nicht behoben sind. Wenn Onkel Thomas unwiderlegbare Fakten bestreitet und gemeinsam mit Neonazis auf der Straße demonstriert, kann man das nicht einfach ungeschehen machen. Andere scheuen nach langer Zeit des Alleinseins noch immer die Gemeinschaft mit Mitmenschen, und bei vielen nahm das Vertrauen in die Politik oder in Obrigkeiten im Allgemeinen Schaden.
Darüber nachzudenken oder es gar zu verarbeiten, hatten wir wenig Zeit – denn dann kam der Krieg. Der Überfall Russlands auf die Ukraine donnerte in unser Dasein, und zwar ganz anders als die Pandemie. Er traf ganz andere Bereiche unserer Psyche, setzte ganz andere Ängste frei, verursachte ganz andere Zweifel. Eine Pandemie? Sicherlich schlimm. Doch trotz aller üblen Auswirkungen wussten wir, dass die Wissenschaft mit Hochdruck an einem Vakzin arbeitet und das Coronavirus über kurz oder lang in den Griff zu kriegen sein wird. So kam es denn auch. Das war klar, das war eine Frage der Logik.
Aber nun? Es wird keinen Impfstoff gegen Krieg geben. Dennoch dachten wir lange Zeit, so eine Art Immunität dagegen entwickelt zu haben. Das Wundermittel nannten wir Pazifismus, und viele von uns taten so, als wären sie als Kind in einen Kessel mit diesem Zauberzeug gefallen.
Nun aber müssen wir erfahren, dass es möglicherweise nicht ausreicht, einfach nicht hinzugehen, wenn es einen Krieg gibt. Das hilft genauso wenig wie einfach mehr spachteln als Mittel gegen die Welthungerkrise. Alles Einfache ist halt zu einfach. So einfach ist das.
So gerieten in allen Schichten der Bevölkerung grundsätzliche Werte ins Wanken. Vieles, was früher gut war, wird heute kritisiert oder gilt sogar als schlecht – und umgekehrt.
Ehemalige Wehrdienstverweigerer eilen nun zumindest gedanklich zur Waffe. „Deutschland“ ist nicht mehr nur ein Anlass, alle paar Jahre betrunken begrölt zu werden, sondern etwas Verteidigungswürdiges. Die Bundeswehr gilt nicht mehr als Haufen besoffener Wochenendheimfahrer, sondern als richtige Armee, und ihre personelle und materielle schlechte Ausstattung ist kein Anlass mehr für Hohn und Spott, sondern ein Grund zur Sorge.
So wird gerade Wert für Wert auf den Prüfstein gezerrt. Sogar die Atomkraft gilt nicht mehr als Auslaufmodell, sondern mindestens als notwendiges Übel.
Die Frage stellt sich nur: Wo soll das hinführen? Sollten wir uns tatsächlich jahrzehntelang dermaßen geirrt haben? Darüber sollten wir zumindest etwas länger nachdenken – und es uns nicht zu einfach machen.
Michael Herl ist Autor und Theatermacher.