Country-Diva Linda Ronstadt

Algorithmen lassen die Sängerin Linda Ronstadt ins Bewusstsein zurückkehren. Ihre stilistischen Manöver waren alles andere als beliebig. Die Kolumne.
Aus dem Reich, in dem die Algorithmen regieren, werde ich seit Wochen mit Bildern aus der Pop-Ära der 60er- und 70er-Jahre beschickt, ohne sie eigens nachgefragt zu haben. Und weil ich leicht zu durchschauen bin, reißt die Bildzufuhr nicht ab. Bob Dylan, Joni Mitchell, Brian Wilson, Creedence Clearwater Revival – es ist, als würde mein Bewusstsein mit visuellen Animationsreserven aus der Vergangenheit beschossen, um mich bereit zu halten – für was auch immer.
Irgendwann waren Fotos von Linda Ronstadt dabei, die ich gleich wiedererkannte, obwohl ich sie im Verlauf meiner popmusikalischen Sozialisation nicht intensiv wahrgenommen habe. Sie klang mir damals zu sehr nach Mainstream, und ihre stilistischen Manöver zwischen Country, Pop und Rock, an denen ich nun gesteigertes Gefallen gefunden habe, wertete ich irrtümlicherweise als Beliebigkeit.
Linda Ronstadt, über die ihre erst kürzlich mit einem Grammy ausgezeichnete derb-draufgängerische Kollegin Bonnie Raitt sagt, sie sei die Beyoncé ihrer Zeit gewesen, sieht auf den Bildern teenagerhaft schüchtern aus. Es gibt einen TV-Ausschnitt, in dem sie 1969 in einem aufreizend kurzen Kleid neben Johnny Cash sitzt und sie gemeinsam „I Never Will Marrie“ singen. Die damals 23-Jährige wirkt deutlich jünger, und sie war keineswegs die Einzige, die zu der Show, die den Namen des Country-Heroen trug, eine Art Talent- und Niedlichkeitsfaktor beisteuerte.
Es war natürlich ganz anders. Von Ihren Kollegen wurde Linda Ronstadt für ihre Nahbarkeit und Professionalität geschätzt. Neil Young, Paul Simon und James Taylor kamen in den Genuss, sie als Background-Sängerin beschäftigen zu dürfen, und die Erfolgsgeschichte der Eagles verdanken Don Henley, Glenn Frey und Co. ihrer Chefin Linda Ronstadt, weil diese so generös war, sie aus ihren Verträgen als Begleitmusiker zu lassen, um ihr eigenes Bandprojekt zu starten.
Ihre fragil-mädchenhafte Erscheinung stand in auffälligem Kontrast zur musikalischen Selbstsicherheit, die Linda Ronstadt zu entfalten imstande war, sobald die ersten Takte intoniert wurden. Ein leicht im Internet zu findendes Beispiel ist ein Rockpalast-Konzert aus dem Jahre 1976 in Offenbach, in dem Ronstadt ihr Diven-Potenzial mit scheinbar unbedarftem Tingeltangel-Charme zu kombinieren weiß. Die beiden Country-Alben „Trio I + II“, die sie mit ihren musikalischen Schwestern Dolly Parton und Emmylou Harris aufgenommen hat, waren da noch in weiter Ferne. Ach, diese ewige Leichtigkeit.
Noch einmal ganz anders lesen sich die Bilder, wenn man sie im Wissen um die Schicksalsschläge betrachtet, denen Linda Ronstadt ausgesetzt ist. 2013 gab sie bekannt, wegen einer Parkinson-Erkrankung nicht mehr auftreten zu können, kurz darauf veröffentlichte sie ihre Autobiografie „Simple Dreams. A Musical Memoir“. In Interviews, denen sie sich trotz der fortschreitenden Krankheit nicht entzog, blitzen ihr Humor und ihre klug-illusionslosen Einschätzungen zu ihrer Branche auf. Angst vorm Sterben, sagt Linda Ronstadt tonlos leise, um mit ihren Kräften hauszuhalten, habe sie nicht. Vor langem Siechtum allerdings schon.
Was bleibt? Ein soeben erschienenes Buch handelt von Arizona und der Landschaft, in der sie aufgewachsen ist. Es heißt: „Feels Like Home“.
Harry Nutt ist Autor.