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Corona, der Protest und die Krise des neoliberalen Systems

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Von: Paul Mason

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Wer lügt hier und warum? Coronaprotest, hier in Wien.
Wer lügt hier und warum? Coronaprotest, hier in Wien. © Florian Wieser/dpa

Es darf nicht sein, dass die extreme Rechte die müden Geschöpfe des Neoliberalismus zu Gefolgsleuten ihrer Ideologie macht. Wir müssen für die Idee des Rechtsstaats kämpfen. Ein Essay.

Corona ist wie ein Lackmus-Test – es bringt in Staat oder Zivilgesellschaft verborgene Schwächen eines Landes ans Licht. Aktuell macht das Virus sichtbar, welche Teile Europas am anfälligsten sind für die neue Formel rechtsextremer Politik, die ich in meiner ersten Kolumne in der FR vorgestellt hatte.

In Wien marschierten 40.000 Menschen auf einer Demonstration mit, zu der die „Freiheitliche Partei“ aufgerufen hatte. In der Menge liefen rechtsextreme Identitäre mit, aber auch viele Menschen, die einfach nur über die Einführung neuer Impfvorschriften empört waren.

Die neue Gedankenarchitektur der extremen Rechten

Die Transparente waren ein Musterbeispiel für die neue Gedankenarchitektur der extremen Rechten. Auf einem stand „Kontrolliert die Grenzen, nicht euer Volk“. Auf anderen hieß es: „Der große Austausch. Great Reset: Stoppt den globalistischen Dreck“. Unverhohlen wurde hier die rechtsextreme Behauptung, die Einwanderung verursache den Völkermord an den Weißen, verbunden mit dem Wunsch des Weltwirtschaftsforums nach einem grüneren, gerechteren Kapitalismus.

Diese Bewegungen haben das Potenzial, zu Sammelbecken für die Rechtsextremen zu werden. Es wäre ein riesiger Fehler, diese Gefahr zu unterschätzen. Denn in diesen Mobilisierungen spielt sich die zentrale Krise unserer Zeit ab. Ich nenne sie die „Krise des neoliberalen Selbst“. Mehr als dreißig Jahre lang waren alle politischen Entscheidungen auf das wirtschaftliche Kalkül ausgerichtet: Ist die Entscheidung „gut fürs Geschäft“, wird sie „den Märkten gefallen“? Der Markt wurde als eine allwissende, intelligente Maschine dargestellt, die vertrauenswürdiger ist als die einzelnen Menschen oder die Regierung.

Das menschliche Gehirn verlangt nach Kohärenz

Im Jahr 2008 brach die Maschine zusammen. Wir hielten sie mit massiven staatlichen Eingriffen und Billionen Euro in Gang. Aber während man ein Wirtschaftsmodell jahrzehntelang am Leben erhalten kann, ist dies bei einer Ideologie nicht möglich. Das menschliche Gehirn verlangt nach Kohärenz.

Da die Linke und der Liberalismus nicht in der Lage waren, eine kohärente Erklärung für die neue Realität zu liefern, hat die extreme Rechte ihre angeboten. Corona bot ihr die Gelegenheit, diese Ideen einer viel größeren Gruppe von Menschen nahe zu bringen: Menschen, die bereits verunsichert sind, Misstrauen hegen und sich machtlos fühlen.

Millionen weißer, christlicher Europäer:innen waren davon ausgegangen, dass Maßnahmen zur Einschränkung der Freizügigkeit und des Zugangs zu Räumen immer nur für Menschen mit Migrationshintergrund, Kriminelle, ethnische Minderheiten und Sponti-Demonstrierende gelten würden. Nun haben einige Staaten zum Schutz der öffentlichen Gesundheit Impfpässe für den Zutritt zu Clubs, Restaurants, Fußballspielen und zum Arbeitsplatz eingeführt.

Es geht nicht um Pässe - es geht um Identität

Der Impfpass symbolisiert die Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft und gegenüber jedem anderen Menschen – Verpflichtungen, die es nach der Ideologie der freien Marktwirtschaft nicht geben sollte. Infolgedessen müssen sich Menschen, die noch nie wirklich über Politik nachgedacht oder sich mit ihr beschäftigt haben, endlich die Grundfrage aller politischen Philosophie stellen: Woher kommen die Bürgerrechte, von denen ich annehme, dass ich sie habe, und mit welcher Berechtigung schränkt der Staat sie ein?

Viele Menschen fühlen sich schlecht gerüstet, um diese Frage zu beantworten. Dreißig Jahre lang dachten sie, der Markt beantworte sie. Jetzt sehen sie, dass die Antwort nicht in Klamotten von Billigläden liegt. Und nun? Mit der Anti-Corona-Bewegung kommt Aufregung und Zielstrebigkeit in ihr Leben. In der einen Minute sind sie ein Niemand mit einem uninteressanten Job. In der nächsten Minute verstecken sie sich hinter Transparenten, die die globale liberale Elite beschuldigen, „Dreck“ zu sein und einen Völkermord an ihrer Gruppe zu begehen, sowohl durch Einwanderung als auch durch Impfung.

Der Autor

Paul Mason lebt als Publizist in London. Sein Buch „Faschismus und wie man ihn bekämpft“ erscheint 2022 bei Suhrkamp.

Hannah Arendt hat solche Menschen gut verstanden. Sie schrieb, die Durchschlagskraft der Propaganda totalitärer Organisationen beruhe darauf, „dass Massen an die Realität der sichtbaren Welt nicht glauben (...). Auf sie wirkt nur die Konsequenz und Stimmigkeit frei erfundener Systeme, die sie mit einzuschließen versprechen“ (Hannah Arendt: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft“, Piper, 9. Auflage März 2016).

Wir können gern über die Sinnhaftigkeit von Impfpässen debattieren und denen zuhören, die sich über die Verletzung der bürgerlichen Freiheiten sorgen. Aber hier geht es nicht wirklich um die Pässe. Es geht um Identität. Die verlorenen Kinder des späten Neoliberalismus sind auf der Suche nach einer neuen Identität, und wenn wir nicht hart für die liberale, tolerante Identität kämpfen, die Komplexität akzeptiert, die Wissenschaft respektiert und die Grundidee eines Gesellschaftsvertrags versteht, wird die rechtsextreme weiter gedeihen. (Paul Mason)

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