Canceln und Karriere
Wie kurz ist das Kurzzeitgedächtnis des Publikums? Ab wann kann man der Öffentlichkeit auch die größten Loser wieder zumuten? Die Kolumne.
Schon länger stellt sich ja die Frage, was es denn eigentlich bedeutet, wenn einer ganz und gar gecancelt ist, also durch eine miese Meinungsmafia von der Öffentlichkeit ausgeschlossen wird. Im Falle der Kabarettistinnendarstellerin Lisa Eckhart bedeuteten ihre Spekulationen über Juden unsterblichen Ruhm, wohldotierte Buchverträge, Auftritte im „Tipi beim Kanzleramt“ und die plötzliche Würdigung ihres provinziellen Gehampels im Feuilleton. Im Falle des nun auch in Sachen Klima zunehmend verschwörerisch raunenden Dieter Nuhr folgten aus seiner Cancelung (Cancelierung?) eine immer noch bessere Platzierung im ÖR und Ausstellungen seiner dilettantischen Fotoknipserei auf der Art Cologne.
Gecancelt zu sein ist eine Variante von „erfolgreich sein“ – wenn auch das Zweite-Klasse-Ticket des Erfolgs, der nicht Leistungen entstammt, sondern einem ermüdenden, rituell wiederholten Rondo aus Fehlleistungen, Entschuldigungen, Opfergetue und öffentlichem Gejammer.
Schlagsänger Michael Wendler: Comeback diesmal noch gescheitert
Im Falle Michael Wendler haben wir jetzt eine neue Stufe dieser Erfolgslogik erreicht. Gut zwei Jahre, nachdem der Schlagersänger mit hanebüchenen Thesen zu Covid Furore gemacht und schon geplante Engagements verloren hatte, kündigte RTL II eine Serie an, die ihn und seine Lebenshörige als süßes Elternpaar in Szene setzen sollte. Nach lautem Protest hat RTL II die Idee zwar wieder kassiert, aber immerhin hat sich hier doch sehr schön gezeigt, was es heute heißt, persona non grata zu sein: nicht einmal drei Jahre taktische Feuerpause, dann ein allseitig bestens abgestimmter Versuchsballon, um zu gucken, ob sich noch jemand an die eigenen Aussetzer erinnert. Hier hatte der Wendler einfach Pech: Es hätte genauso gut vergessen sein können.
Es war ein Testballon für den Wendler, aber auch einer für die Branche insgesamt: Wie kurz ist das Kurzzeitgedächtnis der Öffentlichkeit zur Zeit, ab wann kann man ihr auch die größten Loser wieder zumuten? Dem Wendler zum Nachteil gereichte wohl vor allem sein proletarischer Habitus – so etwas verzeiht das Bürgertum schlechter als dezent verklausulierte antisemitische Anspielungen. Hätte der Wendler sich für sein Comeback in ein Zwanziger-Jahre-Glitzerkleid gesteckt, outriert-spinnert mit den Augen gerollt und werweiß gar Gereimtes produziert, er hätte gute Chancen gehabt, als mehrfach gebrochene Kunstfigur, cleverer Klischee-Entlarver oder doppelbödiger Provokateur wieder Einlass in die Gefilde der Sagbarkeit zu finden. Da hätten er und RTL noch mal drüber nachdenken müssen!
Überhaupt scheint es ja so, dass diejenigen, die vor der Cancel Culture, Zensur und Meinungsdiktatur warnen, ihre eigene Variante davon rigoros durchsetzen: Weil man sonst bald nichts mehr sagen darf, bestimmen sie einfach selbst, was gesagt werden kann. Nachdem sie jahrelang vor der Meinungsdiktatur böser Queer-Aktivist:innen gewarnt haben, haben etwa die Republikaner in verschiedenen US-Bundesstaaten kurzerhand queere Literatur, Dragshows, rassismuskritische Bildung und trans-Aktivismus verboten. Das wird allen eine Lehre sein, die die Meinungsfreiheit ihrer Agenda unterordnen wollen! Gecancelt zu sein, das ist nicht mehr nur der Karriere-Ritterschlag, das bedeutet auch reale politische Macht. Kein Wunder, dass jetzt alle gecancelt sein wollen.
Leo Fischer ist Autor, Stadtrat in Frankfurt (Ökolinx) und war Chefredakteur des Satiremagazins „Titanic“.