Brown Sugar

Bemerkenswert ist, wie viel Energie heute darauf verwandt wird, Interviews, Reden und künstlerische Hervorbringungen nach problematischen Stellen abzusuchen. Die Kolumne.
Schon wieder so eine Geschichte kultureller Selbsttabuisierung. Die Rolling Stones verzichten vorerst darauf, ihren Song „Brown Sugar“ im Rahmen ihrer aktuellen Tournee zu spielen. Von der „Los Angeles Times“ darauf angesprochen, antwortete Keith Richards pampig: „Ich versuche mit den Schwestern herauszufinden, wo das Problem liegt. Verstehen sie nicht, dass dies ein Song über den Horror der Sklaverei ist? Im Moment versuchen sie, den Song zu begraben. Ich will keine Konflikte wegen diesem ganzen Scheiß. Aber ich hoffe, dass wir ,das Babe‘ in all seiner Herrlichkeit wieder aufführen können.“
Das „Babe“ stammt vom Album „Sticky Fingers“ von 1971, es ist einer der erfolgreichsten Songs der Stones überhaupt. Wen er mit den Schwestern meint, lässt Keith Richards offen. In kaum verschlüsselter Form aber handelt der Song vom Gang eines Plantagenbesitzers zu den Hütten seiner Sklavinnen.
Sicher, es ging im Stones-Universum immer auch um die ungeschönte Darstellung ausschweifender Sexualität, aber mit ein wenig Wohlwollen kann man kaum umhin, „Brown Sugar“ als popkulturelle Auseinandersetzung mit rassistischen Stereotypen zu deuten: „Drums beating, cold English blood runs hot/ … Brown Sugar, how come you taste so good?/ … just like a black girl should …“
Es ist aber nicht die Zeit für elaborierte Gedichtinterpretationen mit besonderem Sinn für Ambivalenzen. Also lassen die Stones das Stück, das lange im Verdacht stand, den Konsum von Heroin zu verherrlichen, lieber weg.
Bemerkenswert ist an der Affäre indes, wie viel Energie heute in konventionellen Redaktionen und noch viel mehr in den sozialen Medien darauf verwandt wird, Interviews, Reden und künstlerische Hervorbringungen nach problematischen Stellen abzusuchen. Mühelos ließe sich jede Woche eine zweistellige Liste ermitteln, in der schlimme Vorwürfe gegen Klassiker der Kulturgeschichte erhoben werden.
Der Gebrauch elektronischer Aufzeichnungsmedien, die die Suche nach inkriminierten Objekten erheblich erleichtern, stand lange im Verdacht des Überwachungsmissbrauchs durch höhere Mächte. Inzwischen aber befinden wir uns in einem Zustand permanenter Selbstüberwachung.
Eine neue Qualität weist in diesem Zusammenhang der Fall der irischen Schriftstellerin Sally Rooney auf. Sie genoss bislang den Ruf, die Gedankenwelt der heute 30-Jährigen, aber auch deren Ängste und Nöte, klar und schnörkellos zur Sprache zu bringen.
Jetzt artikuliert Sally Rooney unmissverständlich ihre Unterstützung für die israelkritische Boykottorganisation BDS. Ganz in diesem Sinne teilte sie unlängst mit, dass sie ihren neuen Roman „Schöne Welt, wo bist du“ erst ins Hebräische übersetzen lassen werde, sobald sie einen Weg gefunden habe, der im Einklang mit den Boykottrichtlinien der Organisation BDS stehe. Politischer Aktivismus – jetzt auch mit dem Mittel der Selbstzensur?
Sally Rooneys politischer Kompass arbeitet nicht sonderlich verlässlich. Gegen das Erscheinen ihrer Romane in China, Russland oder Iran hat sie nichts einzuwenden. In den sozialen Netzwerken regt sich deshalb Widerspruch. Unter #boycottsallyrooney fordern zahlreiche User dazu auf, Sally Rooneys Literatur selbst zu boykottieren. Brown Sugar, how come you taste so good?