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Boomer: Eine Generation als Sündenbock

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Von: Michael Herl

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Klimastreik von „Fridays for Future“ zusammen mit der Gewerkschaft Verdi Anfang März in München.
Klimastreik von „Fridays for Future“ zusammen mit der Gewerkschaft Verdi Anfang März in München. © IMAGO Images

„Boomer“, das war mal augenzwinkernd gemeint, doch ist inzwischen ein übles Pauschalurteil: Die Alten sollen schuld an allem sein – weil sie viele sind. Die Kolumne.

Eigentlich war es ja mal an der Zeit, dass die Alten älter werden. Es fing an vor etlichen Jahren, als die Alten plötzlich nicht mehr die Alten waren, sondern die „jungen Alten“. Wie auf Knopfdruck gab es dann keine alten Alten mehr, sondern nur noch Bejahrte. Sie trugen Klamotten in Farben, die selbst ihren Enkeln zu grell waren, tanzten, surften, bungeesprangen und mountainbikten wie entfesselt und begnügten sich nicht mehr mit Blümchen-Sex, sondern versuchten sich am Plantagen-Porno. Sie hießen natürlich längst nicht mehr Rentner und auch nicht mehr Senioren, sondern „Best Ager“ und ab dem zwölften Frühling nicht mehr Greise, sondern „Golden Ager“. Längst wurden alte Schlager wie „Man müsste nochmal siebzehn sein“ nicht mehr gehört, sondern gelebt, und Bob Dylans „Forever young“ war keine romantisierende Erinnerung an laue Sommernächte am Strand von La Gomera mehr, sondern Lebensmotto.

Damit ist es vorbei. Alte sind plötzlich älter denn je. Und selbst Menschen, die noch gar nicht so fürchterlich viele Jahre auf dem Buckel haben, sondern gerade eben mal die 60 überschritten, wurden über Nacht zu den alten Ärschen der Nation – denn sie sind schuld. Schuld, weil sie viele sind und weil sie scheiße sind. Ganz einfach. Zur zusätzlichen Vereinfachung des Einfachen wurde denn auch flugs ein Name für sie gefunden: „Boomer“. Das geschah schon vor einigen Jahren in den diversen Netzwerken der Jugend. Es war zuerst augenzwinkernd gemeint, ist ja auch ein netter Begriff. Doch jetzt, wo die Probleme der Welt und der Gesellschaft überhandnehmen, gewinnt er an Breitenwirksamkeit. Einfache Lösungen, die zu propagieren wirft man der AfD und deren Konsorten vor. Doch umgekehrt funktioniert das offensichtlich genauso. Ohne lange nachzudenken, wird eine ganze Generation als Sündenbock für alles und jedes abgestempelt.

Viele Boomer hatten damals sogar noch mehr recht als die Jungen heute

Ich bin ja auch einer von ihnen. Jahrgang 1959. Das Prachtexemplar eines Boomers. In der Volksschule, wie die Grundschule damals hieß, waren wir vierzig Buben in der Klasse. Wir waren also viele. Doch ich bin mir keiner Schuld bewusst. Denn spätestens zehn Jahre später, so mit 16, 17, wussten wir es. Wir wussten es, so wie viele der heutigen Jugendlichen es wissen. Und wir versuchten, etwas zu ändern. „Fridays for Future“ gab es schon damals. Es hieß nur anders. Und schon damals machten wir die Generationen vor uns für vieles verantwortlich. Jene, die in den Krieg zogen und die Juden vergasten. Und jene, die alles wussten und nichts taten. Und vor allem jene, die hinterher nicht dabei gewesen sein wollten.

Wir hatten damals sogar noch mehr recht als die Jungen heute. Denn das Pauschalisieren einer ganzen Generation war fast richtig. Schließlich waren die meisten derer, die keine Schuld hatten, ermordet oder aus guten Gründen emigriert. Okay, das lässt sich nicht eins zu eins vergleichen. In einem Punkt aber doch. Wir waren zwar viele, aber wir waren nicht viele genug. Die Anzahl der Babyboomer war riesig, doch die meisten waren in der Tat scheiße. Und das Ergebnis muss die jetzige Generation ausbaden. Ich sehe nur ein Problem. Die meisten heute sind auch scheiße. Also tut was, Ihr Jungen. Vielleicht schafft Ihr es ja. Good Luck, Euer Boomer.

Michael Herl ist Autor und Theatermacher.

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