Besondere Rituale
Die Verweigerung von Leistung ist mein Beitrag zum Tag der Gerechtigkeit der Klassen. Ein Boykott von Halloween schloss sich gleich an. Die Kolumne.
Am 1. Mai bleibe ich traditionell zu Hause und nehme mir nichts vor. Die Tradition ist eine persönliche und erst jüngeren Datums. Ich musste früher nie „heraus zum revolutionären 1. Mai“ und habe mich auch von Kreuzberger Straßenschlachten stets ferngehalten.
Die 1.-Mai-Praxis, die mich vor einigen Jahren in eine Berliner Ambulanz beförderte, hatte keinen antikapitalistischen Hintergrund. Sie nutzte die Errungenschaften des historischen Arbeitskampfs nur. Sie war auf dem bescheidenen Wohlstand und der Feierabendkultur gewachsen, die in Westdeutschland nicht mit Standesstolz, sondern Aufstiegsdenken verbunden war: der Hoffnung, es, wenn man sich nur ordentlich anstrengte, am Ende noch ein Stück weiter „hinauf“ zu schaffen.
Auto waschen, Straße fegen: Samstagsprogramm in der 5-Tage-Woche
Das nimmermüde Vereinsmeiernde daran, das kleinteilig Käseigelige, das grundlegend Fremdgesteuerte der Vorstellung einer Entspannung, für die man sich ins Zeug legen musste, war im Rückblick wohl der Nährboden des heutigen 24/7-Denkens gewesen. „Samstags gehört Vati mir“, hatte die 5-Tage-Woche in den 50ern versprochen. Was bedeutete, dass sonnabends fortan das Auto gewaschen, die Schuhe geputzt, gegärtnert und die Straße gefegt wurde. Dem Alkohol sei Dank nur wiederum bis 17 Uhr.
Den Hefezopf hatte ich am Vorabend des 1. Mai damals nach einem vollen Arbeitstag gebacken, als die Kinder im Bett waren, die veganen Bouletten ganz in der Früh, die Familie sollte ja versorgt sein auf der Landpartie – und ins Grüne gefahren werden musste doch an einem 1. Mai, was wäre das sonst für ein peinlich ungenutzter Feiertag gewesen!
1. Mai - ideal zum Nichtstun
Auf der anderen Seite der Stadt war schnell noch etwas abzuholen, ich verfuhr mich, verfuhr mich erneut, war im Verzug und hatte mitten auf der Stadtautobahn plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen …
Seither ist Leistungsverweigerung mein Beitrag zum Tag der Klassengerechtigkeit. Ein Halloween-Boykott schloss sich gleich an. Die Nächte vor dem 1. Mai und dem 1. November waren im keltischen Jahreslauf ja die höchsten Festanlässe. Zu Beltane (dem 1. Mai) wurden zusammen mit der Winterkälte auch böse Geister mit Feuern vertrieben. Und zu Samhain (dem 1. November) verschlossen die Menschen ihre Kamine, damit kein Wesen aus der Anderswelt ins Haus eindringen konnte. In diesen Nächten, dachte man, wäre die Zeit außer Kraft gesetzt und die Grenze zwischen der materiellen und der immateriellen Welt durchlässig.
Achtstundentag im Internet? Die Zivilisation bräche zusammen
Als Grenzverkehr zwischen materiellen und immateriellen Welten ließe sich ebenso der Klassenkampf beschreiben. Der historische, in dem schwitzende Körper aufmarschierten, um Zahlenverhältnisse zu verändern. Und der zeitgenössische, der sich zwischen der Daten-Bourgeoisie und dem Daten-Proletariat entfaltet. Zwischen jenen, die Algorithmen festlegen und Bots für sich ins Rennen schicken. Und jenen, die das Internet mit ihrem echten Leben füttern und deren konkrete Handlungsspielräume dabei immer kleiner werden.
Tatsächlich hat sich alles Irdische inzwischen so vollständig ins Digitale hinein verdoppelt, dass man die Geister gar nicht mehr draußenhalten könnte, ohne seinen eigenen Schatten gleich mit abzuschneiden. Mit einem Achtstundentag im Internet bräche die Zivilisation zusammen. Verweigerung ist hier keine Option. Nach wie vor ist Nichtstun eben nur bei jenen bourgeois, die damit leben können. Der Rest darf sich mit schlechtem Gewissen allenfalls mal kurz entziehen.