Antisemitismus: Wenn alle plötzlich zu Fachleuten werden

Beim Thema Antisemitismus hat jede und jeder eine Meinung, aber viele haben zu wenig Wissen. Aufklärung ist das Einzige, das wirklich hilft. Die Kolumne.
Mit Fußball habe ich nicht so viel am Hut. Aber ich finde es interessant, wie bei wichtigen Fußballspielen plötzlich aus normalen Zuschauerinnen und Zuschauern Millionen Schiedsrichter:innen und Trainer:innen werden. Allein durchs Zuschauen wissen und können sie alles besser. Hätte man auf ihre Ratschläge gehört, wäre alles anders gelaufen. Ähnlich ist es beim Antisemitismus. Auch hier werden viele Zuschauer:innen zu Fachleuten, wenn es darum geht, sich zu Antisemitismus zu erklären. Doch genauso wie bei den Regeln im Fußball sind beim Antisemitismus die Definitionen wichtig.
Im westlichen Nachkriegsdeutschland bezog sich die Ächtung von Antisemitismus über Jahrzehnte vor allem auf den Massenmord an den Juden. In der DDR war davon wenig die Rede, dort galt Antisemitismus eher als untergeordnete Kategorie des Klassenkampfes. Nach der Wiedervereinigung 1990 rückte das Thema weit in den Hintergrund. Zu Unrecht, wie ich finde, denn Antisemitismus verschwindet nicht einfach, nur weil man nicht darüber spricht. Das hat bei Rechtsextremismus schon nicht funktioniert, wie also sollte sich Antisemitismus einfach so in Luft auflösen? Er gehört schließlich zum Kern des kulturellen Gedächtnisses eines christlich geprägten Europa.
Antisemitismus jeweils im Gewand der Zeit
Juden wird seit 2000 Jahren unterstellt, dass sie bestimmte Eigenschaften und Absichten hätten oder eine Macht besäßen, mit der sie vor allem zerstören wollen. Eine Verschwörung stehe dahinter, ein großer Plan, eine bitterböse Absicht gegen die Unschuld der Welt. Und das ist auch heute so, jeweils im Gewand der Zeit. Die Grundaussage aber bleibt die gleiche.
Als die antisemitischen Angriffe dann doch heftig wurden, begann die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sich damit zu beschäftigen. Die Frage war, wie Antisemitismus beschrieben und gegen ihn vorgegangen werden kann. Erst im Jahr 2005 entwickelten Wissenschaftlerinnen und Praktiker die erste Definition, die den Realitäten einigermaßen gerecht werden konnte. Nun ist die Definition, weiterentwickelt von der IHRA, der International Holocaust Remembrance Association, die Arbeitsgrundlage vieler europäischer Staaten, Antisemitismus zu ahnden.
Antisemitismus: Bürgerliche Deutsche verwahren sich dagegen
Antisemitismus ist kein Bauchladen, in dem sich jeder Mensch aussuchen kann, was er oder sie für Antisemitismus hält oder, vor allem, was nicht. Eingefleischte Verschwörungsmystiker:innen bestreiten jeden Antisemitismus in den eigenen Reihen, Antisemitismus in Einwanderermilieus gibt es auch nicht. Bürgerliche Deutsche verwahren sich dagegen – mit Fingerzeig auf Muslim:innen –, und fast alle sind sich einig, dass israelbezogener Antisemitismus gar nicht existiert. Nur die Neonazis dürfen, so scheint es, noch unbeanstandet Antisemiten sein.
Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Angriffe, Beleidigungen, Schmierereien, Terror, Bedrohungen, das erleben wir Juden in Deutschland jeden Tag. Von allen Seiten. Auch über den Umweg sogenannter Israelkritik, die meistens mehr mit Projektion als mit Politik zu tun hat.
Wen es interessiert: Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus hat am Freitag gemeinsam mit der Europäischen Kommission ein Heft herausgegeben, das beschreibt, wie die Definition angewendet wird, welche Fälle antisemitisch sind und wie damit umgegangen werden kann. Ich kann sie nur empfehlen, sie bringt vielleicht – wie beim Fußball – mehr Klarheit in die aufgeputschte Zuschauerschaft. (Von Anetta Kahane. Die Autorin ist Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung.)