Ansichten

Fürs Älter werden ist ein offener Blick auf sich hilfreich. Es gibt wenig, was einen so jung wirken lässt wie bewertungsfreie Neugier.
Alt werden tut auch gut. Schade eigentlich, dass es so spät beginnt, oder vielmehr: dass man dazu neigt, es so lange zu verdrängen. Wenn man jung ist, soll der Körper abliefern, ohne Ansprüche zu stellen und dabei dem gängigen Bild möglichst genau entsprechen.
Im Alter wird der Mensch persönlicher. Er wendet sich endlich sich selbst zu. Er bemerkt, dass sein Körper bestimmte Nahrungsmittel nicht verträgt, er kauft seine Schuhe in der richtigen Größe, er erinnert sich daran, dass er einst Träume hatte, die nichts mit Erwartungen oder Leistung zu tun hatten. Und er fragt sich, warum Arthrose, Plantarsfasziitis und Burnout notwendig waren, um ihn zu dem zu bringen, was das Natürliche für ihn ist.
Fast jede zweite Person in Deutschland ist 40 Jahre oder älter (47 Prozent, Zahlen von 2021) und jede vierte Frau mindestens 65 Jahre alt. Selbst bei Germany’s Next Topmodel (GNTM) fiel im letzten Jahr, in der 17. Staffel, die Altersgrenze. Martina, Lieselotte und Barbara machten den Anfang, Marielena, Nicole, Charlene und Zuzel folgten ihnen jetzt nach.
40 plus zählt, wofür GNTM-Macherin Heidi Klum vor allem von jungen Leuten die Kritik erntet, mit älteren Model-Kandidatinnen nur deswegen Diversität zu bedienen, weil sie en vogue sei. Eine Kritik, die ich als Zielgruppe, nach deren Speckseite mit der 40-plus-Wurst geworfen wird, aus mehreren Gründen nicht teile.
Erstens wird in dieser Show alles bedient, was en vogue ist, das ist ja die Idee. Zweitens sind 59 Prozent der Frauen in Deutschland über 40, sie sind also eine Mehrheit, mithin im eigentlichen Sinne nicht diversitätsrelevant.
Und drittens ist nicht von der Hand zu weisen, was Alter zu bieten hat: Ich denke nur daran, wie die Models im letzten Jahr eine sehr steile griechische Freitreppe herabschweben sollten und die jungen Frauen auf ihren Stilettos sprunggelenksgefährdend auf der Mitte der Treppe pfeilgerade nach unten wackelten – während die 50-jährige Österreicherin Martina auf das Eleganteste und sicheren Schrittes in großzügigen Diagonalen nach unten kam. Lage checken, Plan machen, Wirkung genießen – Lebenserfahrung macht es möglich.
Nun sehen nicht alle so aus wie Martina, Marielena und die anderen. Aber es wollen ja auch nicht alle Model werden. Und wenn GNTM schöne Bilder mit Falten liefert, ist mir das sehr willkommen, denn auf Bilder kommt es an.
Tatsächlich und im Alltag ist es auch im Jahr 2023 noch immer so, dass jeder zwar gerne sehr alt werden will – aber das Alter soll eine ewige Jugend sein. Wirklich: Botox lebt, wie man im kalten Licht der frisch gekrochenen Sonne auf den Straßen gerade besonders gut sieht. Ausgepolsterte Stirnpartien oder komplett verschwundene Philtren (das Philtrum ist die Rinne zwischen Oberlippe und Nase) allerorten! Offenbar sehen Menschen lieber so aus wie die Comicfigur Marge Simpson als wie sie selbst – nur eben in älter.
Ich hatte eine Tante, die sehr stolz darauf war, mit 50 noch die gleichen Röcke tragen zu können wie mit 30. Was ihr offenbar nicht auffiel, war, dass die Röcke dabei immer kürzer wurden, weil die Taille zunehmend nach oben rutschte. Will sagen: Man kann die Augen so fest zukneifen, wie man will, die anderen sehen einen doch.
Warum also nicht selbst einmal einen freundlichen, offenen Blick riskieren? Zumal es wenig gibt, was einen so jung wirken lässt wie bewertungsfreie Neugier.
Petra Kohse ist Theaterwissenschaftlerin, Buchautorin und Heilpraktikerin für Psychotherapie.