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Am Gipfel des Zynismus

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Von: Michael Herl

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Unser Kolumnist erklimmt den Gipfel des Zynismus und behauptet: Wenn wir nicht wieder alles falsch machen, können wir vom Krieg in der Ukraine im Verbund mit der Pandemie profitieren.
Unser Kolumnist erklimmt den Gipfel des Zynismus und behauptet: Wenn wir nicht wieder alles falsch machen, können wir vom Krieg in der Ukraine im Verbund mit der Pandemie profitieren. © Sergei Chuzavkov/dpa

Pandemie und Krieg öffnen die Augen: Fehler haben wir genug gemacht, nun müssen wir die Folgen ausbaden. Doch darf man Leid als lehrreich bezeichnen? Die Kolumne.

Eigentlich – zugegeben – braucht es schon eine gehörige Portion Zuversicht, der momentanen Gesamtsituation etwas Gutes abzugewinnen. Doch in heiteren Zeiten optimistisch sein, das kann ja jeder. Eine Herausforderung hingegen ist es, auch inmitten dunkelsten Gewölks zarte Strahlen der Hoffnung wahrzunehmen. Denn – da sind sich alle Abreißkalender und Glückskekse einig – die Sonne scheint immer, mag es noch so dunkel sein.

Bei dieser Gelegenheit lässt es sich auch grad mal den Volksmund Lügen strafen. Denn der Satz „Mach es wie die Sonnenuhr, zähl’ die heit’re Stunden nur“ ist Schwachsinn. Die nämlich kann man nur als heiter wahrnehmen, wenn man zuvor die dunklen durchlebte. Die sollte man also auch zählen, erst dann weiß man die hellen zu schätzen.

Was sagt uns das? Dass wir nun da durchmüssen. „Learning the hard way“ lautet eine englische Redewendung. Sie meint, etwas lernen, indem man Fehler macht und bereit ist, deren Konsequenzen zu tragen. Auf unser Jetzt übertragen: Fehler haben wir genug gemacht, nun müssen wir die Folgen ausbaden. Und dann? Wird dann alles besser? Schau’n mer mal. Vielleicht anders.

Zugegeben, wir dachten ja schon vor zwei Jahren, an einem Wendepunkt angekommen zu sein. „Corona hat uns die Augen geöffnet“ war die einhellige Meinung derer, die meinten, klug zu denken und schlau zu schreiben. Zu lange hätten wir über unsere Verhältnisse gelebt. Zu laut, zu hell, zu schnell, zu viel, zu falsch, zu eigensinnig, zu süchtig, zu schmutzig, zu unbedacht, zu gewinnorientiert, und und und. Dann kam die Pandemie, und danach wird alles besser, dachten viele.

Doch es kam anders. „Du musst jetzt was lernen – der Ärger begann: von nun an ging’s bergab“, sang einst Hildegard Knef. So kam es auch, denn wir hatten nicht viel gelernt. Wollten „zurück zur Normalität, ohne zu erkennen, dass das „normal“ nie wieder so sein können wird, wie es einmal war – und das, was wir früher unter „normal“ verstanden, das Unnormale war.

Es wurde also nicht besser, sondern ging weiter bergab. Es gab, beziehungsweise gibt, Krieg. Ihn als lehrreich zu bezeichnen, ist angesichts des Leids, das den Menschen in der Ukraine zugefügt wird, zynisch. Doch er öffnet uns weiter die Augen. Außerdem war Zynismus schon immer wesentlicher Bestandteil eines jeden Kriegs, ebenso wie die Heerschar der Gewinnler.

Also führen wir beide mal zusammen, erklimmen den Gipfel des Zynismus und behaupten: Wenn wir uns nicht vollkommen bescheuert anstellen und nicht wieder alles falsch machen, können wir von diesem Krieg im Verbund mit der Pandemie profitieren. Und mit „wir“ sind nicht nur die Deutschen gemeint, nicht nur die Europäer, sondern alle. Weltweit.

Die momentane Gesamtsituation eröffnet Chancen, wie sie noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. Wie wahr diese These ist, zeigt der Umstand, dass 2021 das beste Börsenjahr seit 1970 war. Die Zeiten sind so profitabel wie seit mehr als 50 Jahren nicht mehr.

Die Geldgeier auf dem Parkett haben dies erkannt. Laut „Oxfam“ verdoppelten die zehn reichsten Menschen der Erde während der Pandemie ihr Vermögen. So absurd es klingt: Das sind sie, die zarten Strahlen der Hoffnung im dunklen Gewölk. Man muss sie nur erkennen. Und in die richtige Richtung lenken.

Michael Herl ist Autor und Theatermacher

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