Am Ende der Fahnenstange

Tiere brauchen Wandermöglichkeiten, um sich dem Klimawandel anzupassen. Das gilt auch für Pflanzen. Für viele ist der Weg zu weit, schreibt der frühere Frankfurter Zoodirektor Manfred Niekisch.
Neidisch könnten sie hinaufschauen in den Himmel, die Frösche und Kröten, die sich derzeit über Asphaltbänder vorarbeiten zu ihren Laichgewässern. Dort oben ziehen Vögel, ungestört vom Autoverkehr, zwischen Brutplätzen und Überwinterungsgebieten hin und her.
Das Gefährdungspotential namens Windräder ist den kriechenden, hüpfenden Tierchen fremd. Dennoch eint Zugvögel und Lurche, und nicht nur sie, ein Schicksal. Die Teillebensräume, die sie auf ihren Zügen und Wanderungen im Verlauf der Jahreszeiten aufsuchen, sind voneinander getrennt, fragmentiert, wie es technisch heißt.
Den Zugvögeln werden geeignete Rastplätze knapp, auf denen sie bei ihren kräftezehrenden Flügen Pause machen können. Die Lurche hingegen schaffen es vielerorts nicht mehr, lebend die den Autos gewidmeten Hindernisse zu überqueren, denen sie bei ihren saisonalen Wechseln zwischen Landquartieren und Gewässern begegnen.
Längst ist klargeworden, dass es nicht reicht, intakte Biotope zu erhalten. Es müssen auch Verbindungen, Korridore zwischen ihnen vorhanden sein. Das geht weit über die regelmäßig stattfindenden Tierwanderungen hinaus.
Genetischer Austausch zwischen Populationen und Lebensräumen ist aus evolutiver Sicht sowieso notwendig. Der aber kann nur stattfinden, wenn die Biotope vernetzt sind, Tier- und Pflanzenarten sich über sie ausbreiten, aus ihnen wegwandern können.
Gerade in Zeiten des Klimawandels wird dies besonders nötig. Denn wenn sich das Klima an den Orten bisheriger Verbreitung ungünstig entwickelt, müssen sie weg, irgendwie. Oder die Chance bekommen, sich durch neue Gene aus anderen Populationen fit zu machen für den Klimawandel.
Der geht allerdings für manche zu schnell, um ihm ausweichen zu können, beispielsweise für unsere einheimischen Wälder. Die Wandergeschwindigkeit der meisten Baumarten seit der letzten Eiszeit wird mit etwa einem drittel Kilometer jährlich angenommen; das ist viel, viel zu langsam, um mit der Klimaveränderung Schritt halten zu können. Nicht nur für die Fichte, sondern auch für den deutschen Klassiker, die Buche, verlagert sich der Wohlfühlbereich klimabedingt polwärts, Richtung Norden.
Ausweglos ist diese Entwicklung für Lebewesen, die bereits an den Grenzen der Ausbreitungsmöglichkeit leben. Beispielsweise sind Frösche, die in großen Höhen leben, auf der Flucht vor der Wärme irgendwann am Gipfel angekommen, sozusagen am Ende der Fahnenstange. Was für die Höhenverteilung gilt, lässt sich in die Horizontale übertragen. Auch wer in seinem Lebensraum gefangen ist, weil kein Fluchtkorridor existiert, hat schon verloren.
Deswegen muss sich die Politik schleunigst bemühen, den Flickenteppich deutscher Naturschutzgebiete weit besser durch Vernetzungen zu ergänzen. Da ist das grüne Band entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze ein besonders gutes Beispiel, dem groß- und kleinflächig weit mehr folgen muss.
Zumal der Klima-Expertenrat gerade festgestellt hat, dass die klimarelevanten Emissionen In Deutschland letztes Jahr zwar geringer geworden sind, dies aber bei Weitem nicht ausreicht, um die aktuellen Klimaziele zu erreichen. Da brauchen unsere wildlebenden Tiere und Pflanzen dringend mehr Bewegungsfreiheit.
Manfred Niekisch ist Biologe und ehemaliger Zoodirektor.