Abels Blut schrie zum Himmel

Stolpersteine, die des Schicksals von Jüdinnen und Juden gedenken, sind kein Trost. Denn sie erinnern auch daran, wie viele im nahen Umfeld damals zuschauten. Die Kolumne.
Es hatte sich schon eine beachtliche Gruppe von interessierten Menschen eingefunden, als vor einer katholischen Kirche in Berlin-Kreuzberg ein Kastenwagen hielt. Der Künstler Gunter Demnig öffnete die Schiebetür, um zwei Stolpersteine zu verlegen. Zwei von hunderten, die im Inneren des Wagens lagerten.
Ehrlich gesagt, fällt es mir sehr schwer über die Ermordeten in meiner Familie zu schreiben. Die Diskrepanz zwischen dem, was öffentlich zum Massenmord an den Juden in Worten und Gedenken gerade noch akzeptabel ist für die deutsche Gesellschaft, und dem, was aus der Perspektive der Opfer erlebt und erlitten wurde, ist viel zu groß, als dass jeglicher Versuch, auch meiner, hierüber eine Brücke zu ziehen, gelingen könnte. In der Erinnerung stapeln sich die Namen, genau wie die Solpersteine, in einer anonymen Menge.
Dann kommt dieses Ereignis mit den glänzenden Steinen auf dem Boden, und sie tauchen für einen Moment wieder auf: Kurt Machol war der Bruder meines Großvaters. Er wohnte mit Editha, seiner Frau, und dem kleinen Abel in einer der Wohnungen, die zur Kirche gehörten. Kurt studierte Jura und promovierte. Die ganze Familie engagierte sich in Nachbarschaft und Gemeinde, im Turnverein und verschiedenen Parteien.
Sie alle waren große Patrioten. Kurt Machol wurde sogar aktives Mitglied im ‚Verband Nationaldeutscher Juden‘. Er war kein „Deutscher jüdischen Glaubens“, wie es immer so unschön heißt, sondern ganz eindeutig ein Jude deutschen Glaubens. Deswegen wollte er auch unbedingt in die Reichswehr.
Das von Kurt und Editha lang ersehnte Baby kam 1940 auf die Welt. Sie nannten es Abel. Dieser Name trägt ein Omen. Abel, so heißt es in der Heiligen Schrift, war der jüngere Sohn von Adam und Eva, den ersten Menschen auf der Erde. Sein Bruder Kain erschlug ihn aus Neid und Eifersucht. Abel wurde das erste unschuldige Opfer mörderischer Gewalt.
Der kleine Abel Machol war nicht einmal zwei Jahre alt, als er mit seiner Mutter und seinem Vater deportiert wurde. Die Familie erhielt im September 1942 einen Brief in Amtsdeutsch, der sie zur Sammelstelle in der Synagoge Moabit beorderte. Kurt hatte als nationaldeutscher Jude noch versucht, dem antisemitischen Hass zu entgehen – ein weiteres Mal –, indem er sich kurze Zeit davor noch hatte taufen lassen.
Es ist ein Fluch, sich vorstellen zu müssen, wie die Juden dieses Bezirks durch die Straßen gegangen sind. Etwa 700 Jüdinnen und Juden zogen von der Synagoge aus zum Güterbahnhof Moabit. Kurt, der Optimist, lief neben seiner Frau Editha, die Abel fest auf dem Arm hielt. Die Leute an den Fenstern, manche hinter Gardinen, sahen das mit an. In der Bibel heißt es, Gott hätte nach Abel gerufen und fragte Kain. Der antworte kalt: „Bin ich denn meines Bruders Hüter?“
Wenige Tage danach kamen die Juden am Ort ihres Todes an. Nackt, an der Grube, erschossen, jeder einzelne. Auch der Kleine. Abels Blut schrie zum Himmel.
Ein halbes Jahr später wurden Kurts Bruder Heinz, seine zweite Ehefrau Lilly und die gemeinsamen Kinder Gert und Peter nach Auschwitz deportiert. Auch Edithas Eltern Theodor und Helene Tuch wurden ermordet. Überleben konnten Kurts Schwester Charlotte und die Kinder von Heinz aus erster Ehe: Ernst Machol und meine Mutter Doris.
Die vielen Stolpersteine können kein Trost sein.
Anetta Kahane ist Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung