Keine Kapitulation

Wer auf eine Lösung durch Verhandlungen hofft, darf Selenskyjs Position nicht schwächen. Der Leitartikel.
Noch ist die Aufregung groß, wenn Beobachterinnen und Beobachter hierzulande mit ihrem bequemen Sicherheitsabstand zu russischen Bombenangriffen den ukrainischen Widerstandskurs infrage stellen: „Natürlich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung, aber auch die Pflicht zur Klugheit einzusehen, wann man sich ergeben muss“, hat etwa Philosoph Richard David Precht gerade gesagt und damit viel Empörung auf sich gezogen.
Ausdrücklich bezieht sich Precht nicht auf den Einzelnen, der sich verteidigen müsse, sondern auf die Durchhalteparolen eines Präsidenten, „der sein Volk in einen Krieg schickt, den es verlieren muss“. Auch „Spiegel“-Kolumnistin Sabine Rennefanz zeigt sich „erschreckt“, „mit welcher Einmütigkeit und Kritiklosigkeit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gefeiert wird“. Sie findet, dass „die problematischen Seiten der Politik Selenskyjs ausgeblendet werden“, etwa das Ausreiseverbot für kampffähige Männer oder Selenskyjs archaische Rhetorik.
Noch hört man diese Sicht selten, noch kommt sie nicht von Politikerinnen und Politikern. Doch je länger die Kämpfe sich hinziehen, je größer das Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer wird, desto stärker wird der Westen unter seiner Ohnmacht leiden und den ukrainische Preis für ein Kriegsende anheben. Schon als der russische Autokrat Wladimir Putin mit seinem Blitzkrieg in Kiew gescheitert war, hörte man von Politikerinnen und Politikern hinter vorgehaltener Hand, dass das für die Ukrainer nicht unbedingt die bessere Perspektive eröffnen müsse.
Dabei beweist doch gerade die Überraschung darüber, wie schwer sich die russischen Truppen tun, dass eine schnelle Kapitulation falsch gewesen wäre. Man muss das Argument zwar ernst nehmen, dass so wohl weiteres Blutvergießen gestoppt worden wäre. Aber vielleicht nur vorerst. Fakt ist, dass der Aggressor so bekommen hätte, worauf er aus war – und dass die ukrainische Bevölkerung das eindeutig verhindern will.
Für den Westen muss das genauso gelten. Die jüngste Drohung aus dem russischen Außenministerium, das die durch Russlands Aggression erst erzwungene Stärkung der Nato-Präsenz im Baltikum nun als „Provokation“ bezeichnet und Schweden und Finnland vor „ernsthaften militärischen und politischen Folgen“ einer Nato-Einbindung gewarnt hat, beweist, dass das russische Machtstreben nicht nach einer ukrainischen Kapitulation enden würde.
Im Gegenteil scheint doch bittere Wahrheit in dem zu stecken, was Selenskyj sagt: Die Menschen in der Ukraine sterben gerade auch für die Freiheit des Westens, etwa für Selbstbestimmung und gegen Fremdherrschaft. Würden sie sich Putin nicht mehr in den Weg stellen, was würde ihn aufhalten, wo würde er stoppen?
Freilich darf man sich keine Illusionen machen: Die Ukraine kann gegen die russische Übermacht nicht gewinnen. Doch bislang hat es sich für sie gelohnt, auf Sicht zu fahren, statt von einem vermeintlich unausweichlichen Ende her zu denken. Derzeit kann Selenskyj zumindest Zeit gewinnen und so seine Verhandlungsposition stärken.
Denn Putin hat nicht nur die ukrainische Widerständigkeit unterschätzt und die Schlagkraft seiner Armee und die prorussische Bewegung im Nachbarland überschätzt. Auch sein Kalkül, er würde den politischen Druck im Aus- und Inland aushalten, wankt mit der wachsenden Unzufriedenheit seiner Bevölkerung und der Last der westlichen Sanktionen. Auch wie es für Putin weitergeht, ist längst unberechenbar geworden.
Darin besteht die Chance für Selenskyj, die er zu Kriegsbeginn noch nicht zu haben schien. Der Kreml setzt weiter allein auf den militärischen Sieg und kauft sich bei den diplomatischen Gesprächen die Zeit dafür. Die Ukraine und der Westen können dagegen nur darauf hoffen, dass eine Lösung am Verhandlungstisch gefunden wird – so bitter es auch sein wird, den Aggressor für seine Aggression auch noch mit Zugeständnissen zu belohnen. Wer aber den Krieg in Verhandlungen beenden will, muss Russland noch etwas entgegensetzen können. Das weiß Selenskyj.
Dass er die Leben der ukrainischen Soldaten, Freiwilligen und Zivilpersonen nicht leichtfertig opfert oder lediglich einem politischen Kalkül unterordnet, hat er bewiesen, als er Kompromissbereitschaft zeigte und das Ziel der Nato-Mitgliedschaft, das in der Ukraine immerhin Verfassungsrang hat, aufgab. Ebenso besteht er nicht mehr auf der harten Haltung zum Status der Separatistengebiete Luhansk und Donezk im Osten seines Landes.
Deutschland und dem Westen bleibt nun nur, die Ukraine in ihrem Zeitspiel so gut wie möglich zu unterstützen, ohne selbst den Krieg zu eskalieren. Es muss um Hilfe für Flüchtlinge, Nothilfe für die Zivilbevölkerung, die Isolierung und weitere wirtschaftliche Schwächung Russlands, Vermittlung von Gesprächen und Waffenruhen, wohl auch um Waffenlieferungen, auf jeden Fall aber um finanzielle und moralische Unterstützung gehen.
Jeder will, dass der Krieg so schnell wie möglich endet. Die Frage ist dabei ist aber nicht, ob am Ende Putin oder die Ukraine siegt. Sondern, so bitter das ist, ob Russland allein die Bedingungen diktiert – oder ob es zumindest einige Zugeständnisse eingehen muss.