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Unverantwortliche Fantasien

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Von: Stephan Hebel

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Von einem Flüchtlingsboot gerettet, bekommt ein Mann im Hafen von Malaga Hilfe. So dicht, dass Not leidende Menschen nicht mehr bei uns anklopfen, kann auch ein Jens Spahn die Grenzen nicht schließen. Imago Images
Von einem Flüchtlingsboot gerettet, bekommt ein Mann im Hafen von Malaga Hilfe. So dicht, dass Not leidende Menschen nicht mehr bei uns anklopfen, kann auch ein Jens Spahn die Grenzen nicht schließen. © Imago

Eine Migrationspolitik, die ethischen Ansprüchen genügt und der Realität gerecht wird, würde Mut erfordern. Jens Spahn und Co. aber bedienen vorhandene Zweifel und Abwehrreflexe.

Vor knapp zwei Wochen gab Jens Spahn im ZDF Einblicke in sein Menschenbild. Darin kommen Migrantinnen und Migranten vor allem als Leute vor, an die man eine „klare Botschaft“ senden müsse. Geflüchtete seien „zurückzubringen zu der Küste, woher sie kommen“, sagte der Mann aus dem CDU-Präsidium. Also zum Beispiel (das sagte er nicht) in türkische Knäste oder libysche Folterlager. Spahn: „Das machen Sie konsequent zwei, drei, vier, fünf Wochen. Dann ist die Botschaft klar: Dieser Weg (also der Weg nach Europa, die Redaktion) funktioniert nicht.“ So sprechen Politiker, die von sich behaupten, Europas Werte zu verteidigen.

Spahn forderte ein System, „wo man gezielt sagt, wir nehmen jedes Jahr eine bestimmte Zahl von Menschen auf“. Mit anderen Worten: Retten nach Zahlen, der Rest hat Pech gehabt. Dass der Christdemokrat sich auch noch darauf berief, das Sterben im Mittelmeer beenden zu wollen, muss niemanden wundern. Längst ist es in diesen Kreisen üblich, migrierenden Menschen den Tod durch Ertrinken ersparen zu wollen, indem man sie schon an Land ihrem Schicksal überlässt.

Manch ein EU-Partner ist sogar schon weiter als die CDU

Einige Tage nach Spahns Auftritt veröffentlichte die „New York Times“ ein Video, das zeigt, wie eine Gruppe Geflüchteter aus Somalia, Eritrea und Äthiopien auf Lesbos aufgegriffen, auf ein Boot der griechischen Küstenwache verfrachtet und auf dem Mittelmeer an der Grenze zur Türkei in einem Schlauchboot ausgesetzt wird. Wir sehen: Manch ein EU-Partner ist sogar schon weiter als die CDU.

Es stimmt, dass der Umgang mit Migration kein einfaches Thema ist. Die deutschen Kommunen haben ja die Schwierigkeiten, eine große Zahl Zugewanderter unterzubringen und zu unterstützen, nicht erfunden. Und Widerstände, teils offene Xenophobie in Teilen der Gesellschaft sind ebenso real. Aber wer sagt, dass die Antwort nur darin bestehen kann, die Grenzen so dicht wie möglich zu machen? Zumal das angesichts des ökonomischen, sozialen, ökologischen und politischen Elends, vor dem Menschen fliehen, eine vollkommen unrealistische Antwort ist? Ein Elend übrigens, dessen Ursachen – vom Klimawandel bis zur Zerstörung indigener Ökonomien – allenfalls zum Teil in den Herkunftsländern der Flüchtenden liegen. „Erfunden“ wurden sie in den Weltregionen, die jetzt auf Abschottung setzen.

Spahn stellt die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention infrage

Auch deshalb sind die Fantasien von Politikern wie Jens Spahn nicht nur unmoralisch, sondern auch unverantwortlich: Sie versprechen etwas, das nicht zu halten ist, solange die Welt mit ihren autoritären Tendenzen, den zerstörerischen Potenzialen des globalen Kapitalismus und dem weiter grassierenden fossilen Wahnsinn so ist, wie sie ist. So dicht, dass die darunter leidenden Menschen nicht mehr bei uns anklopfen, kann auch ein Jens Spahn die Grenzen nicht schließen.

Wohl weil er das weiß, wurde der CDU-Mann im ZDF noch radikaler: Um zu suggerieren, sein Konzept der Abschreckung ließe sich verwirklichen, stellte er sogar die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention infrage. Und das in einer Zeit, da ein Land wie Deutschland von sich behauptet, die transnationalen Regeln für ein zivilisiertes Zusammenleben zu verteidigen, die von autokratischen Regimen und halbautokratischen „Demokraten“ verachtet werden.

Die Serie

FR-Autor Stephan Hebel kommentiert an dieser Stelle alle 14 Tage aktuelle politische Ereignisse. Zurzeit macht er aber Urlaub, deshalb erscheint die nächste Folge am Mittwoch, 14. Juni. Wenn Sie Kritik, Lob oder Themenhinweise haben, schreiben Sie an stephan.hebel@fr.de Bitte merken Sie dabei auch an, ob Sie mit einer Veröffentlichung einverstanden wären.

fr.de/hebel-meint

Live erleben können Sie den Autor bei „Hebels aktueller Stunde“ am Donnerstag, 6. Juli, 19 Uhr, Club Voltaire, Kleine Hochstraße 5 in Frankfurt, www.club-voltaire.de, Livestream: www.fr.de/hebelsstunde

Mit diesem Angriff auf internationales Recht ist der CDU-Mann in Deutschland noch ziemlich allein, auch wenn die AfD ihm sicher zustimmen würde. Aber ansonsten darf er sich in reichhaltiger Gesellschaft fühlen: Die SPD-Innenministerin Nancy Faeser suggeriert uns täglich, dass innereuropäische Bewegungsfreiheit nur durch Asyl- und vor allem Abschiebelager jenseits der europäischen Außengrenzen zu gewährleisten sei. Bis es so weit ist, belehrt sie die Mittelmeer-Länder in der EU über ihre Pflicht, sich um asylsuchende Neuankömmlinge zu kümmern. Was sie nicht sagt: Diese Pflicht ist Teil eben jenes „Dublin-Systems“, das einst vor allem aus dem deutschen Wunsch entstand, möglichst niemanden bis an die eigenen Grenzen gelangen zu lassen.

Christian Lindner, Faesers FDP-Kollege aus dem Finanzministerium, sekundiert mit lautem Nachdenken über Zäune an den Grenzen, und die Grünen signalisieren ein Einknicken in Sachen Asyl-Schnellverfahren jenseits der EU, wenn nur die Bedingungen an ein paar Stellen gelockert werden. Jedenfalls tun das diejenigen Grünen, die in Berlin mitregieren. Andere, wie der aufrechte EU-Parlamentarier Erik Marquardt, haben glücklicherweise protestiert.

Was ist das für eine Moral, die nicht für alle „angegriffenen Menschen“ gilt?

Es hilft, die Dimension dieses Zynismus zu erfassen, wenn man sie mit dem Ton politischer Feiertagsreden vergleicht. Am Himmelfahrtstag, 175 Jahre nach Beginn der deutschen Nationalversammlung, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Frankfurter Paulskirche: „Wenn irgendwo Freiheit und Selbstbestimmung bedroht oder angegriffen werden, werden alle freien Menschen und Völker bedroht. Darum helfen wir den angegriffenen Menschen in der Ukraine und wir unterstützen die wenigen Mutigen, die sich in Russland gegen den Unterdrücker auflehnen.“

Es stimmt, hier hilft Deutschland, hilft Europa nach Kräften und tut damit seine politisch-moralische Pflicht. Aber was ist das für eine Moral, die nicht für alle „angegriffenen Menschen“ gilt? Von denen aus Syrien oder dem Sudan sprach der Bundespräsident nicht, und damit verfehlte er den Anspruch, den der Abgeordnete Jacob Grimm schon 1848 in der Paulskirche formulierte: „Deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“

Notwendig wäre ein offenes Ringen um die gesellschaftliche Hegemonie für Humanität

Noch einmal: Eine Politik zu entwerfen, die ethischen Ansprüchen genügt und der Realität der Migration gerecht wird, würde Mut erfordern. Notwendig wäre ein offenes Ringen um die gesellschaftliche Hegemonie für Humanität; ein Handeln, das sich nicht hinter finanziellen oder anderen „Sachzwängen“ versteckt, die mit Recht anderswo, etwa bei der Unterstützung für die Geflüchteten aus der Ukraine, auch nicht gelten; ein gezieltes Vorgehen gegen die politischen und ökonomischen Ursachen der Fluchtbewegungen, zu denen sich inzwischen 100 Millionen Menschen gezwungen sehen.

Nein, das wäre wirklich nicht einfach. Erschreckend ist aber, wie einfach es eine Politik sich macht, der nichts Besseres einfällt, als mit zynischer Rhetorik und falschen Versprechungen vorhandene Zweifel und Abwehrreflexe zu bedienen und zu verstärken.

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