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Ein Getto namens "Marie"

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Von: Michael Herl

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Das Marienkrankenhaus in der Richard-Wagner-Straße im Frankfurter Nordend muss teuren Eigentumswohnungen weichen.
Das Marienkrankenhaus in der Richard-Wagner-Straße im Frankfurter Nordend muss teuren Eigentumswohnungen weichen. © Renate Hoyer

Im Frankfurter Nordend ersetzt die "Marie" das Marienkrankenhaus - ein Komplex mit teuren Wohnungen, ein umzäuntes Getto für exklusive Kreise. Dabei sitzt das Böse schon im eigenen Nest. Die Kolumne.

Eigentlich sollte ich mich schämen. Da wettere ich jahrzehntelang für den Erhalt alter Bausubstanz, für den Schutz funktionierender Sozialstrukturen und gegen das, was man „Gentrifizierung“ nennt – dann stelle ich mich wochenlang mindestens eine Stunde am Tag auf die Straße und beobachte fasziniert den Abriss eines wunderschönen Gebäudekomplexes aus dem Jahre 1907. Vollkommen bekloppt!

Nun, es hat aber auch was. Wie diese gigantische Baggerzange armdicke Dachbalken umknickt wie Forellengräten, wie ganze Partien von Schieferschindeln in einem Rutsch herunterklirren, wie Balkone mit einem Happs abgebissen werden, wie schwere Lastwagen den ganzen Abraum davonächzen, um ihn draußen vor der Stadt auf eine Halde des Vergangenen zu kippen.

Ist „romantisch“ das richtige Attribut für dieses Geschehen? Nein, das trifft es nicht. Wehmut schon eher. Mir wird wehmütig zumute, wenn ich dabei zusehe. Und mir kommen Gedanken. An die vielen Bauarbeiter, die die Häuser errichtet haben. Die Zimmerleute, die Maurer, die Dachdecker. Meine Urgroßväter könnten einen von ihnen gekannt haben; rein vom Alter her.

Man durfte damals ja noch Bier trinken auf dem Bau. Was für Bier sie wohl tranken? Und konnten sie es kühlen? Und wie hievten sie diese schweren Balken hoch aufs Dach? Hunderte davon? Und wie viele der Männer sind wenige Jahre später im Ersten Krieg geblieben? Bei Verdun, an der Somme, an der Marne? So sinnierend verbrachte ich meine Mittagspausen, gleich um die Ecke meiner Schreibstube.

Was war geschehen? Das, was immer geschieht. Ein gewaltiges Spital, das Marienkrankenhaus, wurde aufgelassen. Es war nicht baufällig, nur alt. Doch aus irgendwelchen Fusions-, Kostendämpfungs- oder sonstigen Rechenschiebergründen wurde es nicht mehr gebraucht. Es prangte mitten in einer der teuersten Wohngegenden Deutschlands, dem Frankfurter Nordend. Deswegen war klar: weg damit. Wohnungen müssten her, hieß es, und die kommen nun. 181 Stück in acht Häusern, modernst und komfortabelst ausgestattet, zu erwerben zum Quadratmeterpreis von 12 000 Euro aufwärts.

Das verschwundene Krankenhaus

Dafür ermöglichen sie „ein Wohnen, wie Sie es noch nicht erlebt haben“ und „eine Auszeit im Grünen“, wie der Investor verspricht. Damit man dabei auch wirklich unter seinesgleichen bleibt, sorge ringsum ein Zaun für die nötige „Privatsphäre und Sicherheit“. Wer sich dennoch in die Außenwelt wagt, der stoße in unmittelbarer Nähe auf „Szenetreffs, Liebhaberläden und ihren urbanen Charme“ und sogar „eine Apfelweinkneipe mit angeschlossenem Theater“. Alles in allem herrsche dort draußen eine „einladende und entspannte Grundstimmung“.

Warum dann ein Zaun, fragt man sich? Zumal das Böse doch schon im eigenen Nest sitzt. Zusätzlich werden nämlich in einem Anbau noch 55 Wohnungen für normale Menschen geschaffen, die Hälfte davon für sozial schwache, also ganz normale. Das erwähnt der Investor nicht, denn das war eine Auflage der Stadt Frankfurt.

Übrigens: Dem gesamten Getto gab er nach dem nun verschwundenen Krankenhaus den Namen „Marie“. Und das erinnert wiederum an eine gastronomische Verbrecherbande, die vor Jahren ein uraltes Traditionslokal übernahm und sich erdreistete, aus den Bembeln der verstorbenen Wirtin Caipirinha auszuschenken.

Michael Herl ist Autor und Theatermacher. 

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