Zwei Völker mit ungleichen Rechten

Israel sieht sich als liberale Demokratie. Das ist unvereinbar mit einem Apartheid-Regime. Der Gastbeitrag von Michael Benyair.
Seit einem Jahr läuft eine öffentliche Debatte, ob das Vorgehen der israelischen Regierung in den besetzten palästinensischen Gebieten als Apartheid nach internationalem Recht klassifiziert werden kann.
Als früherer Generalstaatsanwalt in Israel war ich mit dem Analysieren der drängendsten legalen Fragen hierzulande befasst. Israels Besatzung im Westjordanland, in Gaza und Ost-Jerusalem stellten während meiner Amtszeit und darüber hinaus ein fundamentales Dilemma dar. Israels fortdauernde Beherrschung dieser Gebiete ist eine große Ungerechtigkeit, die behoben werden muss.
Seit 1967 haben israelische Regierungen die Besatzung damit gerechtfertigt, dass sie temporär sei, bis eine friedliche Lösung zwischen Israelis und Palästinensern gefunden werde. Inzwischen sind fünf Jahrzehnte seit Eroberung dieser Gebiete vergangen, ohne dass Israel seine Kontrolle aufzugeben gedenkt. Eine andere Schlussfolgerung ist unmöglich: Die Besatzung ist permanente Realität: eine Ein-Staat-Realität mit zwei verschiedenen Völkern und ungleichen Rechten.
Politik zur „Judaisierung“ der Stadt
In Verletzung internationalen Rechts hat Israel mehr als 650 000 seiner jüdischen Bürger in der Westbank und Ost-Jerusalem angesiedelt. Diese Siedlungen umgeben palästinensische Dörfer, fragmentieren vorsätzlich palästinensische Kommunen, um letztlich die Realisierbarkeit eines durchgängigen palästinensischen Staats zu verhindern. In Ost-Jerusalem zwingen diskriminierende Eigentumsrechte Palästinenser aus ihren Häusern entsprechend einer staatlich gestützten Politik zur „Judaisierung“ der Stadt.
In den C-Gebieten der Westbank (wo sich die Siedlungen befinden, d. Red.) werden diskriminierende Planungsgesetze genutzt, um palästinensische Gemeinden zu verdrängen. Diese sind mit einer Flut von Siedler-Gewalt aus unautorisierten Außenposten (illegal selbst nach israelischem Gesetz) konfrontiert. Den Tätern drohen geringe oder keine Konsequenzen. Jegliche Versuche, sich der Apartheid zu widersetzen, werden überwacht oder kriminalisiert, etwa mit der fälschlichen Kennzeichnung von Gruppen der palästinensischen Zivilgesellschaft als Terrorgehilfen seitens des israelischen Verteidigungsministeriums. Nachfolgend haben israelische Regierungen – einschließlich der jüngsten Koalition, die sich von Netanyahus Unnachgiebigkeit abgrenzt – immer wieder ihre Absicht bekräftigt, keine palästinensische Staatsgründung zu erlauben.
Zum Autor
Michael Benyair , 79, war Richter am Obersten Gericht in Jerusalem und von 1993 bis 1996 Generalstaatsanwalt in Israel. FR
An bestehendem Unrecht mitschuldig
Diese Realität hat einen wachsenden Chor internationaler Stimmen dazu gebracht, Israels Kontrolle über die Gebiete als Apartheid-Regime zu verurteilen. Ein Schluss, den auch einige hervorragende israelische und internationale Menschenrechtsorganisation ziehen, wie B’Tselem, Yesh Din, Amnesty International und Human Rights Watch.
Allerdings verläuft die internationale Diskussion weithin so, als ob Israels Vorgehen in den besetzten Gebieten sich von der liberalen Demokratie innerhalb der Grünen Linie (also dem israelischen Kernland, d. Red.) auseinanderhalten lässt. Das ist ein Irrtum. Man kann keine liberale Demokratie sein, wenn man ein anderes Volk der Apartheid unterwirft. Das ist ein Widerspruch an sich, da Israels Gesamtgesellschaft sich an dem bestehenden Unrecht mitschuldig macht.
Es ist das israelische Kabinett, das jede illegale Siedlung in den besetzten Gebieten genehmigt. Es war meine Person in der Rolle des Generalstaatsanwalts, die der Enteignung von palästinensischem Privatland zugestimmt hat, um Infrastruktur wie Straßen zu bauen, die eine Siedlungsexpansion verfestigt haben. Es sind die israelischen Gerichte, die diskriminierende Gesetze bestätigen. Und israelische Steuerzahler finanzieren den Regierungseinsatz von Kontrolle und Dominanz in den (besetzten) Gebieten.
Der jetzige Status quo ist eine moralische Verwerflichkeit
Es ist Israel, das zwischen Jordan und Mittelmeer Millionen Palästinensern zivile und politische Rechte vorenthält. Das ist israelische Apartheid.
Zwei mögliche demokratische Lösungen können den Status quo auflösen. Die erste wäre, allen, die unter israelischer Kontrolle leben, gleiche Bürgerrechte zu gewähren. Leider würde dieses Szenario zu einem Verlust der jüdischen Mehrheit sowie der „Balkanisierung“ des gesamten Territoriums führen. Die zweite mögliche Lösung wäre ein israelischer Abzug aus den besetzten Gebieten, einhergehend mit der Gründung eines palästinensischen Staates an Israels Seite. Dies würde eine faire Teilung des Landes zwischen indigenen Palästinensern und dem über Tausende Jahre verfolgten jüdischen Volk gewährleisten. Das würde eine nachhaltige Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts und ein Ende der Apartheid bedeuten.
Der jetzige Status quo ist eine moralische Verwerflichkeit. Die internationale Gemeinschaft ist in nicht akzeptablem Verzug, sinnvolle Schritte zu unternehmen, um Israel für sein Apartheid-Regime zur Rechenschaft zu ziehen. (von Michael Benyair)