1. Startseite
  2. Meinung
  3. Gastbeiträge

Woelkis Wegschauen

Erstellt: Aktualisiert:

Kommentare

Kardinal Reiner Maria Woelki.
Kardinal Reiner Maria Woelki. © Henning Kaiser/dpa

Wenn der Kölner Kardinal Briefe - etwa zum sexuellen Missbrauch - ungelesen unterschreibt, ist das unverantwortlich. Der Gastbeitrag von Mathias Wirth.

Die Debatte um Rainer Kardinal Woelki, den katholischen Erzbischof von Köln, der nach eigener Aussage Personalakten von Beschäftigten vor deren Beförderung ignoriert, dürfte noch zunehmen. Inzwischen lässt der Leiter des mitgliederstärksten deutschen Bistums nämlich erklären, dass er Briefe nicht liest, die er unterschreibt.

Unabhängig von jetzt eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungen wegen des Verdachts auf Meineid ist in diesem Zusammenhang eine ethische Analyse von Woelkis Agieren interessant. Es stellt sich die Frage, was es zur moralischen Urteilskompetenz in Führungsaufgaben braucht.

Wie ist mit einer Art gespenstischer Anwesenheit von Personen in verantwortlichen Positionen umzugehen, die beim Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt in Verwaltungsabläufen an einer bestimmten – verfrühten – Stelle stehen bleiben? Und was ist, wenn mit Verweis auf Arbeitsteilung in Ämtern und Behörden wichtige Hinweise nicht zur Kenntnis genommen werden, die für ein kompetentes Urteil nötig wären?

Zunächst ist es ein legitimes Interesse einer Person mit Führungsaufgaben, auf Vorarbeiten vertrauen zu können. Allerdings wäre es fatal, wenn lediglich Vertrauenserwartungen bestünden, ohne sie auch selbst zu erfüllen. Vertrauen ist nur dort möglich, wo es Momente wechselseitiger Vergewisserung gibt.

Ein Anwendungsfall für die in Vertrauensangelegenheiten unerlässliche Vergewisserung sind Vorgänge, die das moralische Set-up einer Institution besonders betreffen. Bedingung dafür, um in ihrem Kontext kompetente moralische Urteile zu fällen, ist der Wille zur bewussten Wahrnehmung. Nur so kann dem nun starken Verpflichtungscharakter entsprochen werden.

Im konkreten Fall hat Kardinal Woelki sich im November 2018 mit einem Brief an den Präfekten der Glaubenskongregation gewandt, einen der ranghöchsten Vertreter der römisch-katholischen Kirche. Schon wegen dieser Adressierung besteht ein erhöhter Aufmerksamkeitsbedarf aller an dem Vorgang beteiligten Ebenen – Woelki eingeschlossen.

Inhaltlich ging es in dem Schreiben um die umfassende Schilderung des womöglich grenzverletzenden, nicht nur die interne Moral schwer herabsetzenden Handelns  eines Priesters. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist dies auch im Erzbistum Köln kriminalstatistisch ein seltenerer Vorgang. Die Meldung nach Rom erfolgte, wie Woelki selbst dargestellt hat, nachholend – zur Behebung eines bisherigen Versäumnisses. All dies zusammengenommen wäre eine Behandlung des Vorgangs ohne besondere Aufmerksamkeit und ohne Erfüllung von Verantwortungserwartungen seitens der letztverantwortlichen Führungsperson normativ völlig unverständlich.

Vertrauen wird zudem in einem kommunikativen Sinn verletzt, wenn amtliche Kommunikation paradox strukturiert ist: Offizielle Schriftstücke sind dann sowohl personal wie anonym, normativ und nichtnormativ. Anonym deshalb, weil die unterzeichnende Person ihre Unterschrift ohne vorherige Lektüre geleistet hat; personal, weil bei allen anderen Beteiligten – den Adressaten ebenso wie – rückwirkend – bei den zuvor mit der Erstellung des Schriftstücks Betrauten genau der gegenteilige Eindruck erweckt wird: Was Woelki unterschrieben hat, wird er doch wohl gelesen haben.

Normativ ist ein solches Schriftstück, indem es bestimmte Sachverhalte als problematisch bewertet und kommuniziert. Nichtnormativ ist es, indem der Unterzeichnende am Ende behauptet, den Inhalt nicht zu kennen und sich diesen somit – über die rein formale Ebene hinaus – nicht angeeignet zu haben. So aber unterläuft sich formale Autorität selbst und verweigert die Rolle der Letztverantwortung.

Der schwerwiegendste Aspekt im Fall von Woelkis nun mitgeteilter Praxis des Wegschauens bei der Autorisierung brisanter Schriftsätze ist die damit behauptete Option, ein finales Monitoring – im Sinne der genannten Vertrauenserwartung – könne unterbleiben. Denn dann wäre Woelki nie verantwortlich für etwas Konkretes.

Die Unterschrift einer Führungsperson – als höchste Form der Zustimmung – kann sich nicht lediglich darauf stützen, dass Strukturen von Delegation und Zuarbeit angemessen ausgebildet sind.

Kompetent moralisch handeln kann nur diejenige Person mit Leitungsaufgaben, die zwischen mittelbaren und unmittelbaren Erfordernissen unterscheidet. Eine Unterschrift ist Ausdruck versäumter Verantwortungswahrnehmung, wenn sie nur formal gemeint ist und selbst beim Verdacht auf sexualisierte Gewalt durch anderen Führungsverantwortliche nicht ausdrückt, dass hier erhöhte Pflichten zur Berücksichtigung individueller Verläufe bestehen.

Mathias Wirth ist evangelischer Theologe. Er lehrt Systematische Theologie/Ethik an der Universität Bern (Schweiz) und leitet an der dortigen Theologischen Fakultät die Abteilung Ethik und Diakoniewissenschaft.

Auch interessant

Kommentare