Wenn aus Tieren Wesen werden

Umweltschutz kann nur gelingen, wenn Schweine und Kühe einen juristischen Status erhalten, schreibt der Tierethiker Björn Hayer.
Ein neugeborenes Kalb wird mit den Ausscheidungen der übrigen Kühe in die Jauchegrube geschoben. Seine Mutter versucht, das ohnmächtige Tier durch Anstupsen zum Aufstehen zu bewegen. Doch vergebens. Diese Bilder stammen nicht aus einer Dystopie, sondern einer Reportage des ZDF-Magazins „Frontal“. Derlei krude Praktiken sind keine Einzelfälle, weshalb die Politik seit langem kritisiert wird. Nun soll es ein neues Siegel richten. Wird das genügen? Vermutlich nicht. Denn geboten ist eine systemische Kehrtwende, die unser Verhältnis zum Tier neu auslotet.
Wir wissen mittlerweile, dass Schweine, Rinder und Hühner größtenteils soziale Wesen und teils zur Empathie fähig sind. Bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert wurden sie aufgrund vermeintlich fehlender Vernunft und Intelligenz aus der moralischen Gemeinschaft der Menschen und deren Schutzprivilegien ausgegrenzt. Eine Neuausrichtung kam indessen erst mit Denkern wie Jeremy Bentham, Arthur Schopenhauer und später Albert Schweitzer, die ihr Augenmerk weniger auf vermeintlich Trennendes als vielmehr auf die Leidens- und Schmerzfähigkeit der Tiere richteten.
Daraus entstand die Idee der barmherzigen Fürsorge des Tierschutzes. Heute verfolgt man hingegen zurecht einen auf Rechten beruhenden Ansatz – vor allem weil uns viele Mitwesen, von den häuslichen Begleitern wie Hunde und Katzen bis hin zu sogenannten Nutztieren, uns näher stehen als wir bisher annahmen.
Mit ihnen teilen wir unsere Verletzlichkeit, und das uneingeschränkte Interesse am Weiterleben. Mehr Gleichheit lautet somit die Forderung vieler Tierethiker wie Bernd Ladwig oder Friederike Schmitz. Soweit zur Theorie, die derzeit noch Äonen von der Wirklichkeit heutigen Konsums tierischer Produkte entfernt ist. Nach wie vor steigt die globale Nachfrage nach Fleisch, während die Anzahl der Veganerinnen und Veganer nur langsam wächst.
Ins Spiel gebracht werden könnte ein neuer Gesellschaftsvertrag, einen, der den Mut zu tiefgreifenden Veränderungen aufbringt, ohne die Akzeptanz der Bevölkerung aus den Augen zu verlieren. Ausgehend von der Einsicht, dass es speziesübergreifende Begegnungen schon immer gab und wir nicht den Bruch zwischen Mensch und Tier anstreben sollten, schlagen die Kulturtheoretiker Sue Donaldson und Will Kymlicka eine Staatstheorie vor.
Uns nahe stehende Wesen wie Pferde oder Lämmer sollten demnach als Bürger klassifiziert werden, wohingegen Lebewesen im Wald eher Bewohnern exterritorialer Gebiete gleichen. Beispielsweise Rehe und Wildschweine dürften nicht mehr bejagt werden, hätten aber auch keinen Anspruch auf Unterstützung. Was aber allen Kreaturen in diesem Konzept gemein ist, stellt wiederum das Recht auf Leben dar.
Ganz verzichten müssten wir in einer Variation dieses Aufrisses auf tierische Produkte nicht unbedingt. Denkbar wäre ein gesellschaftsvertragliches Kooperationsmodell, ein dritter Weg in der Tierethik. So könnten wir etwa Milch und Eier weiter beziehen, müssten aber die Aufzucht der männlichen Kälber und Küken gewährleisten und unseren Mitwesen ein Existenzrecht zubilligen. Dass hierdurch die Konsumpreise enorm steigen würden, gilt als sicher. Aber sollte es uns das nicht wert sein? Zeigt sich nicht im Umgang einer Gemeinschaft mit den Schwächsten überhaupt ihre moralische Festigkeit?
Eine derartige Veränderung unserer Lebensverhältnisse wäre angesichts der sonstigen voranschreitenden ethischen Sensibilität nur konsequent. Wir würden dann nicht mehr ausschließlich die Zweiteilung zwischen Mann und Frau, oder zwischen weißen Menschen und People of Color infragestellen, sondern ebenso den Speziesismus.
Denn die Unterdrückungsmechanismen, die gegenüber dem Tier wirken, ähneln denen des Patriarchalismus, Sexismus und Rassismus auf bestechende Weise, was wohl by the way auch erklärt, warum zahlreiche Feministinnen – von Bertha von Suttner über Astrid Lindgren bis hin zu Donna Haraway – überzeugte Tierschützerrechtlerinnen waren.
Gewiss können Tiere im Gegensatz zu Menschen nicht selbst ihre Anliegen vortragen. Aber Kleinkinder sind dazu auch nicht imstande. Dass sie trotzdem alle Menschenrechte qua Geburt genießen, verdankt sich neben den Gesetzen auch den Vertreterinnen und Vertretern für deren Belange.
Im Sinne eines Minderheitenschutzes könnte es daher potenziell ebenso Anwältinnen und Anwälte für animale Bedürfnisse auf sämtlichen Ebenen unseres Staates geben, in Behörden genauso wie in Betrieben. Sie würden mit ihrem Vetorecht Bewusstsein schaffen, mithin für eine Erkenntnis, die wir schon aus den Klimaveränderungen gezogen haben: Das Zeitalter des Anthropozentrismus ist zu Ende.
Björn Hayer ist habilitierter Germanist und forscht zur Tierethik.