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Vernünftig handeln in einem aktiven Staat

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Die Ampel hat sich einer Transformation innerhalb der Prinzipien der Moderne verschrieben, vor allem zur Abwendung einer Klimakatastrophe in Form von Windenergie.
Die Ampel hat sich einer Transformation innerhalb der Prinzipien der Moderne verschrieben, vor allem zur Abwendung einer Klimakatastrophe in Form von Windenergie. © Tom Weller/dpa

Die Mehrheit kann nicht auf die Einsicht derjenigen warten, die in sozialen Medien um sich selbst kreisen. Der Gastbeitrag Holger Krawinkel.

Überdynamisch galt die Gesellschaft auf dem Höhepunkt der Spätmoderne, die in den 70er- und 80er-Jahren die industrielle Moderne abgelöst hat. Ihre soziale, gesellschaftliche und politische Entfesselung war eine Antwort auf eine überregulierte, konformistische und nivellierte Industriemoderne. Sie neigt sich nun selbst ihrem Ende zu.

Diese Abfolge von Erweiterung und Verengung hat es immer wieder in der Geschichte der Moderne gegeben. Nun scheint es, dass die Spätmoderne selbst in eine Verengungskrise gerät, die einer neuerlichen Öffnung bedarf. Für den Soziologen Andreas Reckwitz handelt sich vor allem um eine Krise des Allgemeinen, sowohl im Sozialen als auch im Kulturellen wie im Politischen.

Man kann fragen, ob es sich lediglich um eine Krise der Spätmoderne handelt, die durch eine weitere Moderne abgelöst wird oder um eine Krise der Moderne selbst. In den ökologischen Gefährdungen lässt sich durchaus eine grundlegende Krise erkennen, die möglicherweise nicht mehr im Rahmen des Fortschrittsmodells der Moderne lösbar ist.

Eine grundlegende Abkehr von der Moderne könnte ungeahnte Folgen nach sich ziehen, da nicht klar ist, durch welches gesellschaftliche, kulturelle und politische System sie abgelöst werden könnte. Konsequent hat sich die Ampel-Regierung einer Transformation innerhalb der Prinzipien der Moderne verschrieben, auch und vor allem zur Abwendung einer Klimakatastrophe.

Sie hat nicht nur erkannt, dass die technischen Möglichkeiten dazu bereits verfügbar sind, vor allem in Gestalt von Wind- und Solarenergie. Sie will ihren Erfolg sicherstellen, indem sie die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Folgen der Überdynamisierung überwindet und den Stellenwert des Allgemeinen wieder betont.

In einer „Gesellschaft der Singularitäten“ wurden Individuen zu „Berechtigungssubjekten“ mit scheinbar natürlichen Ansprüchen und verstiegen sich in einen Egoismus der Einzelnen gegen Institutionen. Die neue Koalition will es nicht länger zulassen, dass weiterhin etwa Windräder nur deshalb verhindert werden, weil sie zum symbolischen Hassobjekt bestimmter Singularitäten ge-worden sind.

In den 80er-Jahren diente eine breite Partizipation der Öffnung der verengten Kultur der Industriemoderne. Heute wenden sich die erstrittenen Beteiligungs-rechte zunehmend gegen notwendige Vorhaben des Klimaschutzes. Daher werden in den Beteiligungsverfahren die Endlosschleifen ohne wesentlichen Erkenntnisgewinn abgekürzt.

Dazu will die neue Regierung die Steuerungsfähigkeit des Staates verbessern. Er soll rechtlich und durch zusätzliche Kapazitäten in die Lage versetzt werden, systematisch für den Erhalt und den Ausbau der notwendigen, „allgemeinen“ Infrastruktur, wie Brücken, Breitbandnetze, Eisenbahnen zu sorgen und Stromversorgung vollständig auf erneuerbare Energien umzustellen.

Im Koalitionsvertrag wurden folgerichtig nicht nur die wichtigsten Schienenprojekte zur Umsetzung des Deutschlandtakts benannt und die Verdreifachung der heutigen Wind- und Solarkapazitäten festgeschrieben. Bestandteile des Vertrags sind auch sehr konkrete Maßnahmen zur Planungsbeschleunigung sowie zur Flächenbereitstellung für Windenergie.

Ob dieses Signal in der Gesellschaft insgesamt die Erkenntnis befördert, dass nicht länger um jedes Windrad, jeden Kilometer Tramstrecke, jede neue Bahnlinie, jede zusätzliche Stromtrasse erbittert und jahrelang gestritten werden kann, ist offen. Auch der Philosoph Jürgen Habermas zweifelt inzwischen an der Fähigkeit der Gesellschaft zu vernünftiger Meinungsbildung.

Was möglich ist, zeigen unsere Nachbarn Dänemark, Schweiz und Österreich bei der Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene. Dort sind die Zulauf-strecken entweder fertiggestellt oder im Bau. Wer das Angebot der Ampel wahrnehmen will, muss folgerichtig eine Politik der kleinstmöglichen Einschränkungen akzeptieren, und zwar sowohl im Sinne des Klimas als auch der künftigen Freiheit.

Die Antwort auf die Krise der Postmoderne besteht daher in einem Staat, der das allgemein Notwendige nicht nur kommuniziert und nachhaltig finanzieren, sondern auch durchsetzen kann. Die Mehrheit der Gesellschaft kann nicht auf die Einsichtsfähigkeiten derjenigen warten, die in singulären Partikulargemeinschaften, verstärkt über soziale Medien, um sich selbst kreisen.

Die Corona-Krisen können diesen Prozess beschleunigen. Die übergroße Mehrheit setzt sich von einer lauten, aber kleinen Minderheit ab. Sie verhält sich selbst vernünftig und verlangt nach einem aktiv handelnden Staat, um die Gesellschaft und Freiheit zu schützen. Diese Erfahrungen könnten sich bei der Bewältigung der Klimakrise bald als sehr nützlich erweisen.

Holger Krawinkel ist Energieexperte sowie Stadt- und Regionalplaner.

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