Keine klare Kante

Konservative und Liberale in Europa müssen sich von extremen Rechten distanzieren. Der Gastbeitrag von Iratxe García Pérez und Jens Geier.
Wohl kein Demokrat würde einen plötzlichen autoritären Staatsstreich akzeptieren. Einige politische Kräfte normalisieren derzeit jedoch den Verfall von Demokratie, Gewaltenteilung und Pressefreiheit in Europa. Wir beobachten diese gefährliche Entwicklung in den EU-Staaten Polen und Ungarn. In Italien oder Schweden kann es nun ähnlich kommen. Der Zerfall geht langsam vonstatten. In dieser Hinsicht verhält es sich mit Demokratie und Demokraten wie mit dem Frosch, der instinktiv herauszuspringen versucht, wird er in kochendes Wasser geworfen. Lässt der Tierquäler die Amphibie jedoch in einem Topf ruhen, in dem sich das Wasser allmählich erhitzt, wird der Frosch zu Tode gekocht.
In einer Demokratie haben auch rechtspopulistische Parteien das Recht, sich zur Wahl zu stellen. Doch Autoritäre brechen demokratische Regeln, wenn sie ihre Macht in den Institutionen nutzen, um Freiheiten zu beschneiden, die gegenseitige Kontrolle zu untergraben, den Zugang zu Informationen kontrollieren und Kritiker:innen mundtot machen. Kocht der Topf erstmal, wird die Schadensbegrenzung schwierig.
Schwache Brandmauer
Dennoch beobachten wir, wie traditionelle Parteien der Mitte Demokratiefeinden das Feuer unter dem Ofen schüren. Nicht nur in Italien oder Schweden ist die Brandmauer der Konservativen nach rechts schwach.
Die Schwächung der demokratischen Institutionen auf allen Verwaltungsebenen – von der lokalen bis zur europäischen – untergräbt nicht nur die Demokratie, sie ist auch eine tödliche Bedrohung für unser gemeinsames Projekt, denn wir sind eine europäische Rechtsgemeinschaft. Wir vertrauen uns, weil wir uns gemeinsam an das Recht halten. Es ist die Grundlage unserer Einheit.
Verdacht auf kriminelle Machenschaften
Gegen die Schwächung von Demokratie und Rechtsstaat müssen die Regierungen der EU-Staaten europäische Vereinbarungen umsetzen. Wenn Behörden in den Staaten bei Verdacht auf kriminelle Machenschaften mit europäischen Geldern nicht mit EU-Behörden kooperieren, müssen dort im Zweifel EU-Gelder gekürzt werden und die Kommission den Mechanismus zum Schutz des Rechtsstaats einsetzen. Gleiches gilt, wenn die Unabhängigkeit der Justiz in EU-Staaten in Gefahr gerät. Zum Schutz müssen die Regierungen die europäischen Behörden mit den nötigen finanziellen und rechtlichen Mitteln ausstatten: die Staatsanwaltschaft, aber auch Europol und das Betrugsbekämpfungsamt.
Funktionierende Institutionen sind aber nicht genug. Auch eine demokratische Haltung und die Achtung von Pluralismus und Vielfalt sind für unser Zusammenleben grundlegend. Der Nachkriegskonsens zum Aufbau von Gemeinschaften jenseits von Parteipolitik und Nationalitäten beruhte auf der Überzeugung, dass in Europa kein Platz für autokratische Führer oder rassistische Ideologien war. Stattdessen schufen wir ein Rechtssystem, in dessen Zentrum Menschenwürde, Grundrechte und Gleichheit stehen.
Auf Basis der Grundrechte
Christdemokrat:innen und Liberale teilten diese Überzeugung und waren zusammen mit Sozialdemokrat:innen fester Bestandteil dieses historischen Bündnisses. Seitdem haben Pro-Europäer:innen diesen Wertepakt stets respektiert. Sie wurden in den Verträgen und in der Charta der Grundrechte verankert. Auf dieser Grundlage einigten sich die demokratischen Kräfte im Europäischen Parlament darauf, eine Brandmauer gegen die extreme Rechte zu errichten. Der sogenannte Cordon sanitaire soll sie daran zu hindern, die Institutionen zu missbrauchen, um unsere Rechtssysteme von innen heraus zu untergraben.
Auch nach der letzten Europawahl hatten wir uns mit der konservativen EVP- und der liberalen Renew-Fraktion darauf geeinigt. Doch in ihrem Bestreben, Macht an sich zu reißen, öffnen diese beiden Fraktionen derzeit rechtsextremen und menschenverachtenden Parteien in verschiedenen Mitgliedstaaten weiter die Türen.
Die Konservativen sollten ihre Lektion gelernt haben
EVP und Renew müssen umdenken. Die EVP sollte ihre Lektion gelernt haben: Als die Partei des nationalistischen ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán die konservative Fraktion im EU-Parlament nach Jahrzehnten verließ, waren die ungarischen Institutionen und Freiheiten bereits ernsthaft beschädigt. Sowohl EVP als auch Renew haben sich vor kurzem einer Erklärung angeschlossen, die besagt, dass Ungarn keine Demokratie mehr ist.
In einem zersplitterten Parlament brauchen wir Christdemokrat:innen und Liberale für proeuropäische Initiativen. Über Differenzen hinweg müssen wir weiter zusammenarbeiten, um einen sinnvollen Konsens im Interesse unseres gemeinsamen Schicksals zu finden. Dazu gehört, unsere tragische Vergangenheit anzuerkennen, die sich nie wiederholen darf. Es ist an der Zeit, zu handeln. Bevor das Wasser kocht.
Iratxe García Pérez sitzt der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament vor.
Jens Geier ist Vorsitzender der 16 SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament.