Mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung

Kinder und Jugendliche müssten nach Corona anders betreut werden.
Die Schule hat nach den Sommerferien wieder begonnen, und es scheint, als ob der Alltag eingekehrt sei. Im Zentrum der Schulwirklichkeit steht die Vermittlung von Fachwissen und Kulturtechniken wie lesen, schreiben, rechnen. Dabei wird übersehen, dass nach Corona die Probleme sich erheblich vermehrt haben und die Schule in der Regel nicht auf die aktuellen Herausforderungen reagiert. Ein grundsätzliches Umsteuern wäre dringend notwendig.
So hat etwa die Ärztekammer in ausführlichen Stellungnahmen auf die alarmierende Situation von Kindern und Jugendlichen nach Corona hingewiesen. Psychische Erkrankungen wie Depressionen und Lernstörungen haben deutlich zugenommen. Kinder und Jugendliche waren während des Corona-Lockdowns häufig auf sich alleine gestellt, der Kontakt zu Gleichaltrigen war sehr begrenzt, und das virtuelle Lernen – wenn denn gute Voraussetzungen dafür überhaupt gegeben waren – konnte das analoge Lernen nicht ersetzen.
Auch wurden Kinder und Jugendliche in der Corona-Zeit nicht gehört. Es gab in der Regel keinen Raum, um ihre Ideen und Vorschläge – wie mit der Krise am besten umzugehen sei – aufzugreifen und womöglich umzusetzen.
Die UN-Kinderrechtskonvention, die ein Beteiligungsrecht aller Kinder und Jugendlichen in sie betreffenden Fragen vorsieht, wurde nicht beachtet. Daher fordert der Kinderarzt Gisbert Voigt, Delegierter der Landesärztekammer Niedersachsen, dass die Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden müssen.
Kinderrechte sind Menschenrechte, die sich den Herausforderungen der besonderen Phase des Lebens der Kindheit und Jugend widmen. Sie nehmen bewusst in den Blick, dass Kinder und Jugendliche Menschen in einer zentralen Phase des Lebens sind – nämlich der der Entwicklung. Diese wertschätzend und stärkend zu begleiten, Eigeninitiative zu fördern und Selbstbestimmtheit zu achten – dies sind wesentliche Anliegen der Kinderrechtskonvention, deren Rechtsansprüche jedem in Deutschland lebenden Menschen bis 18 Jahre zustehen.
Die jetzige junge Generation ist weiteren realen und psychischen Belastungen wie dem Angriffskrieg auf die Ukraine und dem für alle spürbaren Klimawandel ausgesetzt. Dass dies Zukunftsängste verursacht, ist naheliegend. Kinder und Jugendliche brauchen daher Zuwendung, Reflexions- und Mitbestimmungsräume.
Die Frage stellt sich, ob Schule auf die Herausforderungen angemessen vorbereitet ist und reagiert. In der Regel wird man dies verneinen müssen, denn das durchgetaktete Lernen im 45-Minuten-Rhythmus bietet wenig Gelegenheit, um die Anliegen ernst zu nehmen und zu besprechen, die Kinder und Jugendliche beschäftigen.
Ferner ist es so, dass Lehrkräfte, die sich mit viel Hingabe der psychischen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen widmen, sich bemühen, die Rechte der Kinder zu stärken, und deren Unterricht sich nicht auf Stoffvermittlung beschränkt, einer unglaublich starken Belastung ausgesetzt sind. Für diese braucht es zuallererst Wertschätzung, Anerkennung und Entlastungsangebote.
Wir brauchen einen interdisziplinären – und damit auch interministeriellen – Blick auf die Umstände, in der Kinder und Jugendliche dabei unterstützt werden können, ihren Platz in einer von Krisen erschütterten Welt zu finden und sich dabei in ihren Sorgen begleitet und in ihrer Expertise gefördert zu sehen.
Nicht zu vergessen ist die Haltung der Kultusministerien, die gerade jetzt Räume öffnen müssten, um Lehrkräfte zu ermutigen, in Weiterbildung und begleitenden Reflexionsrunden Wege zu finden, Kinder und Jugendliche den Herausforderungen der Zeit entsprechend begleiten zu können. Dazu gehört auch, sich der Thematik des Umgangs mit Ungewissheiten zu stellen, wie es Gerd Gigerenzer, ehemaliger Professor am Max-Plank-Institut für Bildungsforschung in Berlin, fordert.
Die Politik ist gefragt, Schulen noch mehr Freiräume zur Lerngestaltung zu geben und sie zu ermuntern innovativer zu werden. Dazu gehört auch, in der Grundschule und den weiterführenden Schulen die Noten abzuschaffen und durch Lernentwicklungsberichte zu ersetzen.
Gerade die Gymnasien sind hier gefragt. Die Richtsberg-Gesamtschule in Marburg – über die vor einiger Zeit in der FR berichtet wurde – ist ein Beispiel für ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassung an die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen – mit einem Lernkonzept, das sich von den herkömmlichen Formen mehr oder weniger gelöst und dadurch sich den aktuellen Entwicklungen angepasst hat.
Christa Kaletsch und Helmolt Rademacher sind Vorsitzende des Landesverbands Hessen der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe).