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Streit auf Kosten armer Kinder

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Von: Christoph Butterwegge

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Den Zoobesuch können sich bei weitem nicht alle Familien leisten.
So etwas wie einen Zoobesuch können sich bei weitem nicht alle Familien leisten. © Hannes P. Albert/dpa (Symbolbild)

Es braucht mehr als die bisherigen Leistungen für Kinder, damit hier alle gut aufwachsen. Der Gastbeitrag.

Nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes hat die Kinderarmut im vereinten Deutschland zuletzt einen Rekordstand erreicht. 21,3 Prozent der Minderjährigen sind hierzulande armutsgefährdet. Mehr als 2,9 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren wachsen in Familien auf, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Dies bedeutet für Alleinerziehende, die ein Schulkind haben, mit einem Betrag unter 1489 Euro und für Paare, die zwei Schulkinder haben, mit einem Betrag unter 2405 Euro auskommen zu müssen.

Trotzdem steht die von SPD, Grünen und FDP im Koalitionsvertrag der Ampel angekündigte Kindergrundsicherung, mit der man das Problem endlich konsequent angehen wollte, nach der Kritik von Bundesfinanzminister Christian Lindner am Konzept von Familienministerin Lisa Paus auf der Kippe.

Lindner hat das familien- und sozialpolitische Prestigeprojekt der Regierungskoalition für „wünschenswert, aber derzeit nicht realisierbar“ erklärt. Seiner Ansicht nach sind mehr Sprachförderung und Maßnahmen zur Integration der Eltern in den Arbeitsmarkt entscheidend, nicht die Erhöhung staatlicher Transferleistungen an die betroffenen Familien.

Hier wird ein bloßer Scheingegensatz zulasten armer Familien konstruiert. Denn die Bundesregierung könnte das eine tun, ohne das andere zu lassen. Entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil sind die meisten Armen jedoch weder arbeitslos noch Ausländer, müssen folglich auch nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden oder Deutschkurse finanziert bekommen.

Sozial ist auch längst nicht alles, was Arbeit schafft, sondern nur, was Armut abschafft. Schließlich hat sich die Arbeitslosigkeit in den vergangenen Jahren halbiert, während die Kinderarmut im selben Zeitraum weiter zunahm. Durch die von der FDP als Oppositions- und Regierungspartei mitgetragene Deregulierung des Arbeitsmarktes ist ein breiter Niedriglohnsektor entstanden, der heute zwischen 20 und 25 Prozent aller Beschäftigten umfasst.

Wenn die Kindergrundsicherung nur kindbezogene Leistungen des Staates zusammenführt, die bisher separat zu beantragen sind, sich teilweise überschneiden und einzeln ausgezahlt werden – das Kindergeld, den Kinderzuschlag, die entsprechenden Regelbedarfsstufen des Bürgergeldes sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepaketes –, bedeutet sie zwar eine Vereinfachung, bringt aber keine finanzielle Verbesserung für das Gros der armen Familien mit sich.

Dabei muss sie eine Doppelfunktion erfüllen, nämlich sowohl die verdeckte Armut von Familien beseitigen, die anspruchsberechtigt sind, aber – sei es aus Unkenntnis, Behördenfurcht, Scham oder Stolz – bisher keinen Antrag auf Sozialleistungen gestellt haben, wie auch die Not von Familien lindern, die trotzdem wegen der Energiepreiskrise und der anhaltenden Inflation kaum über die Runden kommen. Um allen Kindern in Deutschland ein gutes und gesundes Aufwachsen zu ermöglichen, ist mehr nötig als eine Zusammenfassung der bisherigen familienpolitischen Leistungen.

In einer Gesellschaft, welche die Teilhabe selbst ihrer jüngsten Mitglieder am sozialen und kulturellen Leben immer stärker von der Inanspruchnahme kommerzieller Angebote abhängig macht, gilt mehr denn je, dass Armut nur mit erheblich mehr Geld wirksam zu bekämpfen ist. Familien, deren Kinder aus Geldmangel weder ins Theater oder ins Kino noch in den Zoo oder in den Zirkus gehen können, müssen finanziell bessergestellt werden.

Politikerinnen und Politiker, die glauben, Erfolge im Kampf gegen die Kinderarmut feiern zu können, ohne mehr Haushaltsmittel dafür bereitstellen zu müssen, gleichen dem Lügenbaron von Münchhausen, welcher sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen wollte. Auch darf sich die Kindergrundsicherung nicht auf eine individuelle Geldleistung beschränken, sondern muss auch eine infrastrukturelle Förderung beinhalten, weil die soziale, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur gerade für „Problemfamilien“ sehr relevant ist.

Nur wenn genügend Kindertagesstätten, gut ausgestattete Schulen und ausreichend Freizeitangebote (vom öffentlichen Hallenbad über den Jugendtreff und das Museum bis zum Tierpark) vorhanden sind, kann verhindert werden, dass ein Großteil der nachwachsenden Generation unterversorgt und perspektivlos bleibt. Kita, Schule, Ganztagsbetreuung, Mittagessen und Mobilität müssen kostenfrei, die soziale Teilhabe und der Zugang zu kulturellen Angeboten selbst für Mitglieder armer Familien bezahlbar werden.

Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ veröffentlicht.

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