Nicht nachlassen

Die humanitäre Hilfe für die Menschen in der Ukraine und für die Flüchtenden darf nicht weniger werden. Der Gastbeitrag.
Während ich für die UN-Flüchtlingshilfe die Ukraine besuchte, wurde ich am slowakisch-ukrainischen Grenzübergang, nahe Uzhhorod, Zeuge einer berührenden Begegnung: Anna und ihre zwei Kinder konnten ihren Mann und Vater nach einem Jahr der Trennung wieder in die Arme nehmen. Sie war kurz nach dem Überfall Russlands mit ihren Kindern aus Odessa nach Polen geflohen. Ihr Mann kämpft in der ukrainischen Armee.
Am 24. Februar ist es ein Jahr her, dass die russische Invasion in der Ukraine die größte und am schnellste wachsende Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg auslöste. Ein Drittel der Bevölkerung wurde vertrieben. Fast sechs Millionen Menschen sind innerhalb des Landes, von Ost nach West unterwegs, um Schutz und Sicherheit zu finden.
Waren es erst die Mütter mit ihren Kindern, sind es jetzt die alten Menschen, die im Westen, zum Beispiel am Bahnhof in Liviv, ankommen. Bis zuletzt hatten sie gehofft, dass der Krieg gegen das Land nicht so lange dauern würde. Einen humanitären Bedarf, wie er jetzt dringend nötig ist, hat es in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben.
Es wird auch zukünftig viel Unterstützung notwendig sein, denn der anhaltende Beschuss auf zivile und andere Energieinfrastrukturen fordern großen Tribut der Bevölkerung. Die Minustemperaturen und die unvorhersehbaren Ausfälle von Strom und Wasser bestimmen ihren Alltag.
Bislang hat das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Ukraine gemeinsam mit seinen lokalen NGO- Partnern mehr als 4,3 Millionen Menschen unterstützt. 17,6 Millionen Menschen benötigen weiterhin dringende Hilfe. Die Vereinten Nationen (UN) beziffern den Bedarf aktuell auf 5,2 Milliarden Euro.
So sollen 22 Millionen Menschen in und außerhalb der Ukraine erreicht werden. Die Verwüstungen und Zerstörungen in der Ukraine sind immens. In Liviv heulten dreimal während des Aufenthalts an einem Tag die Sirenen. Mit dem Luftalarm bleiben den Menschen rund acht Minuten, um den nächsten schützenden Bunker zu erreichen. Nach der erlösenden Entwarnung geht der Alltag weiter, als sei nichts vorgefallen.
Während so die Infrastruktur und die Gebäude jeden Tag zerstört werden, ist die Einstellung in der ukrainischen Bevölkerung ungebrochen. Die Solidarität in der Zivilgesellschaft wird vieler Orts durch die beeindruckende Arbeit von ukrainischen Nichtregierungsorganisationen (NGO) getragen. Mit praktischer und psychologischer Hilfe wird ein Klima der Sorgfalt und des Kümmerns geschaffen, dass bei den Menschen ankommt.
Während die Kinder in einem gemeinsamen Kochkurs Pizza backen, erfahren die Mütter zwei Räume weiter, was Anzeichen einer Traumatisierung bei ihren Kindern sein können. Anschließend wird gemeinsam gegessen – ein wenig Normalität im sonst so unwirklichen Kinderalltag. Der UNHCR stützt diese zivilgesellschaftliche Arbeit in Partnerschaft mit 200 lokalen Organisationen und zwölf NGOs.
Während die humanitäre Hilfe fortgesetzt wird, werden gleichzeitig Reparatur- und Wiederaufbauarbeiten durchgeführt. Humanitäre Hilfe ist in der Ukraine lebenswichtig, und wo mit dem Wiederaufbau begonnen werden kann setzt man ihn um, auch um sich auf die Rückkehr der Flüchtlinge vorzubereiten. Gemeinsam mit dem UNHCR hat das Infrastrukturministerium eine neue Kooperationsplattform „Ukraine is Home“ ins Leben gerufen, um Angebot und Nachfrage nach Unterstützung bei der Reparatur und dem Wiederaufbau von Wohnungen zu organisieren.
Der Krieg in der Ukraine hat auch eine beispiellose Flut von Solidarität und Unterstützung zwischen Staaten, innerhalb der Gastgemeinden und unter Familien hervorgerufen, die ihre Türen geöffnet oder Zeit und Ressourcen gespendet haben, um Flüchtlinge aus der Ukraine willkommen zu heißen. Derzeit gibt es in ganz Europa über acht Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine, die noch nicht nach Hause zurückkehren können.
Gleichzeitig ist dies ein Konflikt mit enormen regionalen und globalen Folgen. Der Krieg wirkt sich auf Märkte und Wertschöpfungsketten in der ganzen Welt aus. So werden Versorgungsketten unterbrochen und die Hilfe wird durch den starken Anstieg der Rohstoffpreise, insbesondere der Preise für Lebensmittel, Kraftstoffe und Düngemittel zusätzlich erschwert.
Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen sowie fragile, von Konflikten und Gewalt betroffene Länder, werden am stärksten unter den Auswirkungen zu leiden haben. Um in der Ukraine aber auch in anderen Krisenregionen das derzeitige Niveau der Hilfe aufrechterhalten zu können, darf die Unterstützung nicht unterbrochen werden.
Peter Ruhenstroth-Bauer ist Nationaler Direktor der UN-Flüchtlingshilfe, dem deutschen Partner des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR). Mehr unter www.uno-fluechtlingshilfe.de