Gastbeitrag: Die EU braucht mehr Mitbestimmung!

Wie sieht die Zukunft der EU aus? Darüber sollen Bürgerinnen und Bürger in einem neuen Gremium diskutieren – wenn es zustande kommt.
Die gute Nachricht kam als vorgezogenes Weihnachtsgeschenk. Der erste Impfstoff gegen Covid-19 wurde am 21. Dezember 2020 durch die Europäische Arzneimittelbehörde zugelassen. Mittlerweile gibt es nicht nur einen, sondern gleich mehrere wirksame Impfstoffe auf dem Markt. Gemeinsam haben die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union beschlossen, dass Impfstoffe zentral durch die EU-Kommission verhandelt und bestellt werden – ein Novum für einen Politikbereich ohne EU-Kompetenzen.
Einige Monate zuvor hat die EU den 750 Milliarden Euro schweren Corona-Rettungsfonds „Next Generation EU“ verabschiedet, um die pandemiebedingt eingebrochene Wirtschaft in Europa wieder anzukurbeln. Zur Finanzierung dieser Mittel werden zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union gemeinsame Schulden aufgenommen, und es wird alles im Turbo auf den Weg gebracht.
Diese europäische Solidarität war am Anfang der Corona-Pandemie ganz und gar nicht selbstverständlich. Die ersten Reaktionen dieser Krise waren geprägt von nationalen Alleingängen, sei es bei den Exportverboten von Masken und Schutzkleidung oder bei unkoordinierten Grenzschließungen mit einschneidenden Auswirkungen auf den Alltag von vielen Bürgerinnen und Bürgern in Grenzregionen.
Jenseits der öffentlichen Wahrnehmung hat die EU seit dem Ausbruch der Pandemie große Entwicklungssprünge gemacht. Schnell hat sich gezeigt, dass diese Krise unverhofft auch Chancen birgt, Europa nachhaltig zu reformieren und die richtigen Weichen für eine handlungsfähige EU zu stellen, auch wenn es mit der Impfstoffbeschaffung nicht so rund läuft wie erhofft.
Umso enttäuschender ist es, dass der Startschuss für die von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen direkt nach der Europawahl versprochene Konferenz zur Zukunft Europas (eine Art beratendes Gremium, Anm. d. Red.) immer noch nicht gefallen ist. Anders als vorhergehende Konsultationen unter Fachleuten sollte sie unter starker Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger einen innovativen und partizipatorischen Reflexionsprozess für die weitere Entwicklung der EU einleiten.
In einem offenen Verfahren, so der Plan, könnten zufällig und repräsentativ ausgewählte Bürger:innen aus ganz Europa konkrete Vorschläge erarbeiten, diese an die institutionellen Vertreter:innen der Konferenz aus den EU-Institutionen und nationalen Parlamenten weitergeben und anschließend Feedback erhalten. Dieser Mechanismus des direkten Austausches ermöglicht die bürgerliche Teilhabe an dem Prozess.
Der Grund für die Verzögerung der Konferenz liegt nicht etwa an mangelndem Enthusiasmus oder an fehlender Vorbereitung einzelner Akteurinnen und Akteure. Das Europäische Parlament hat seine erste Resolution zu diesem Vorhaben mit einem fraktionsübergreifend beschlossenen Konzept genau vor einem Jahr angenommen. Die EU-Kommission hat kurz danach ein eigenes Konzept vorgelegt. Als letzte der EU-Institutionen konnte sich der Rat der Mitgliedsstaaten ein halbes Jahr später auf eine gemeinsame Position einigen.
Die deutsche Ratspräsidentschaft hat diese Initiative entscheidend vorangetrieben. Die gemeinsame Absichtserklärung der EU-Institutionen wartet de facto darauf, unterschrieben zu werden, damit die Konferenz starten kann. Einzig und allein die Uneinigkeit bei der Vorsitzfrage steht dem Beginn dieser Konferenz im Weg und riskiert auf den letzten Metern ihre Glaubwürdigkeit. Dabei sollten Personalfragen keine übergeordnete Rolle spielen bei einem Vorhaben, das im Kern darauf abzielt, die EU den Bürger:innen näherzubringen, ihr Vertrauen (zurück) zu gewinnen und ihnen ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der Zukunft Europas zu geben.
Jetzt wird es unter portugiesischer Ratspräsidentschaft darauf ankommen, die letzte Chance zur Realisierung der Konferenz zur Zukunft Europas zu nutzen. Gelingt der Start nicht in kürzester Zeit, ist diese Initiative zum Scheitern verurteilt, noch bevor sie angefangen hat. Bereits jetzt sinkt das Vertrauen der Zivilgesellschaft, die sich seit über einem Jahr auf die Initiative einstimmt und Bürger:innen mobilisiert, ohne in die Vorbereitungen der EU-Institutionen einbezogen zu werden. Ein erneuter Vertrauensverlust durch zerstörte Hoffnungen auf mehr Mitbestimmung könnte fatale Folgen für die Akzeptanz von Entscheidungen auf europäischer Ebene mit sich bringen.
Wir müssen jetzt das Momentum nutzen, das durch die Corona-Pandemie entstanden ist, um gestärkt aus dieser Krise hervorzugehen. Die europäischen Eliten brauchen jetzt den Mut, einen offenen, bürgernahen Zukunftsprozess zu starten, anstatt die Zukunft weiter hinter verschlossenen Türen zu gestalten.
Gabriele Bischoff (SPD) ist stv. Vorsitzende des Ausschusses für konstitutionelle Fragen im EU-Parlament und hat für die S&D-Fraktion die Vorbereitung der Konferenz über die Zukunft Europas mitverhandelt.