Frontex braucht selbst Grenzen

Die europäische Grenzagentur muss stärker kontrolliert werden - ein Gastbeitrag von Julian Pahlke.
Auf dem zentralen Mittelmeer zwischen Libyen und Italien treibt ein Boot in Seenot. Ein Flugzeug kreist darüber. Kurz danach erreicht die sogenannte Küstenwache Libyens das überfüllte Boot, greift die Menschen auf und bringt sie zurück nach Libyen – in ein Land, in dem Folter und Misshandlung zur Normalität für Flüchtende gehören. Das wäre, so brutal und beschämend diese sogenannte Küstenwache agiert, nicht neu.
Das Flugzeug aber gehört Frontex, der europäischen Agentur für Grenzschutz. Sie meldete den Seenotfall ausschließlich an eben jene gewaltsame Miliz, wie es Human Rights Watch in einer umfangreichen Recherche rekonstruierte. Unter der ehemaligen Frontfigur Fabrice Leggeri hat Frontex solches Verhalten öffentlich immer abgestritten. Der Agentur zu vertrauen, ist nach Jahren der Grundrechtsverletzungen größtenteils unmöglich. Sie zu kontrollieren ebenso.
Damit soll jetzt Schluss sein: Unter der neuen Führung sollen sich die Kultur der Agentur, Transparenz und die Einhaltung von Menschenrechten verbessern. Für all das möchte der Niederländer Hans Leijtens sorgen. Am Dienstag hat der Frontex-Verwaltungsrat den neuen Exekutivdirektor der Agentur ernannt.

Zur Auswahl stand einmal Aja Kalnaja, Interimsleitung der Agentur seit Leggeris Rücktritt. Ein „Spiegel“-Bericht enthüllte vergangene Woche, dass auch gegen sie Untersuchungen der EU-Anti-Betrugsbehörde laufen. Die zweite Kandidatin war Terezija Gras, Staatssekretärin im kroatischen Innenministerium. Sie hat in leitender Rolle eine Politik systematischer gewaltvoller Pushbacks mitgetragen.
Immerhin wurde die beste Wahl getroffen: Hans Leijtens, Kommandeur der Königlichen Niederländischen Marechaussee, sprach sich in der Anhörung im Innenausschuss des Europäischen Parlaments für gestärkten Grundrechteschutz, Transparenz und neue Glaubwürdigkeit der Agentur aus. An diesem Vortrag wird er sich nun messen lassen müssen und wenn er es ernst meint, steht ihm keine leichte Aufgabe bevor.
Der aktuelle Untersuchungsbericht der EU-Antibetrugsbehörde Olaf zu Frontex und dem Fehlverhalten Leggeris und leitender Mitarbeiter wurde auch mir monatelang verheimlicht. Eine Version mit geschwärzten Seiten erhielt ich Ende Oktober, nachdem er bereits öffentlich geleaked wurde.
Zur Person
Julian Pahlke war selbst seit 2016 Seenotretter. Seit 2021 ist er für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag.
Nötig sind umfassendere Informationspflichten und stärkere Kontrolle von Frontex durch das Europäische Parlament und nationale Parlamente. Wir haben ein demokratisches Problem, wenn bei einer riesigen Agentur, die mit Polizeikräften exekutiv an den EU-Außengrenzen handelt, keine Möglichkeit effektiver externer Kontrolle besteht. Das Budget von Frontex hat sich mehr als verhundertfacht – von sechs Millionen Euro in 2005 auf 754 Millionen Euro in 2022. Auch hierauf gilt es einen kritischen Blick zu werfen. Viel Entscheidungsmacht liegt weiterhin in den Händen des Exekutivdirektors, ohne wirksame Kontrolle durch den Verwaltungsrat.
Frontex verfügt mittlerweile über Drohnen, Flugzeuge, Schiffe, hat Zugriff auf Satellitenbilder und ist mit Tausenden Beamt:innen im Einsatz. Eine Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen war in der Vergangenheit jedoch die Ausnahme.
Viele versprechen sich von der Präsenz der europäischen Beamt:innen auch mehr Transparenz an den Außengrenzen, und es ist mindestens ein Dilemma: Ist Frontex im Einsatz, billigt die Agentur stillschweigend Rechtsbrüche, zieht sie sich zurück, werden dennoch Menschenrechtsverletzungen von nationalen Kräften begangen.
Klar ist, dass das interne Berichtswesen verbessert werden muss: Grundrechtsverletzungen müssen dokumentiert werden, an die entscheidenden Stellen gegeben werden und Konsequenzen müssen folgen. Intern und auch gegenüber den nationalen Grenzbeamt:innen.
Wenn im Zusammenhang mit Frontex-Aktivitäten weiterhin schwerwiegende oder anhaltende Grundrechtsverstöße stattfinden, sind nach Artikel 46 der Frontex-Verordnung die Operationen auszusetzen oder zu beenden. Im Olaf-Bericht wurde als Fehlverhalten festgestellt, dass der Einsatz in Griechenland nicht abgebrochen wurde – trotz der Kenntnis über gravierende Menschenrechtsverletzungen. Im Europäischen Parlament sagte Herr Leijtens, dass der Artikel ernstgenommen, die Einsätze von Frontex überprüft und bei fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen beendet werden müssten. Diese Worte hallen nach, sind sie doch ein neuer Ton und zumindest das Versprechen, dass jetzt einiges anders werden könnte.
Wenn Frontex weiterhin an den europäischen Außengrenzen eingesetzt werden soll, muss Leijtens für Veränderungen, für Transparenz und neues Vertrauen sorgen. Denn an all dem mangelte es bisher.
Julian Pahlke war selbst seit 2016 Seenotretter. Seit 2021 ist er für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag.