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Flüchtlingskonvention als Kompass

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Im vergangenen Winter noch hat Polen, das nun mit einer überragenden Geste der Gastfreundschaft die meisten Neuankömmlinge aus der Ukraine aufnimmt und versorgt, an seiner Grenze mit Belarus den Flüchtlingsschutz und die Menschenrechte von Geflohenen etwa aus dem Irak oder Syrien mit Füßen getreten.
Im vergangenen Winter noch hat Polen, das nun mit einer überragenden Geste der Gastfreundschaft die meisten Neuankömmlinge aus der Ukraine aufnimmt und versorgt, an seiner Grenze mit Belarus den Flüchtlingsschutz und die Menschenrechte von Geflohenen etwa aus dem Irak oder Syrien mit Füßen getreten. © Doris Heimann/dpa

Viele EU-Staaten helfen Flüchtenden aus der Ukraine. Unterschiede dürfen aber nicht gemacht werden. Der Gastbeitrag von Jonas Wipfler (Misereror).

Flucht ist als Thema wieder im Zentrum des politischen Diskurses angekommen. Im Bundestagswahlkampf dominierten soziale Fragen und der Klimawandel, nachdem in den Jahren zuvor Migration und Flucht noch große Debatten ausgelöst hatten.

2015 dürfe sich nicht wiederholen, lautete ein Mantra in den Reden vieler Abgeordneten unter der Reichstagskuppel. Diese Stimmen sind weitgehend verstummt, die Aufnahme von Geflüchteten ist erneut die Herausforderung der deutschen Politik – aber mit anderen Vorzeichen und anderen Gefahren als 2015. Die Solidarität ist ähnlich groß, erneut muss die Zivilgesellschaft in Vorleistung gehen, bevor der Staat mit seiner Hilfe richtig ins Rollen kommt.

Die EU-Staaten haben für die ankommenden ukrainischen Schutzsuchenden eine neue Rechtsform gewählt, die ihnen vom ersten Tag an Zugang zu Arbeitsmarkt und Bildungsangeboten sichern soll. Auch müssen sie nicht ein langes Asylverfahren durchlaufen wie andere Gruppen vor ihnen. Das entspricht dem Geist des Koalitionsvertrags der Ampel, gemäß dem die Integration vereinfacht und eine konstruktive Migrationspolitik gefördert werden sollen.

Mit diesem neuen sehr begrüßenswerten Status entstehen aber auch Unwuchten gegenüber anderen Gruppen von Geflüchteten, die sich nach wie vor in langwierigen Verfahren befinden. In einigen Fällen mussten Geflüchtete aus anderen Staaten ihre Unterkünfte und ihr soziales Umfeld, das sie sich über einen längeren Zeitraum aufgebaut hatten, über Nacht verlassen und für Ukrainer:innen Platz machen.

Gleichzeitig hören wir zunehmend Debattenbeiträge, in denen die kulturelle Ähnlichkeit, das Christentum oder das Geschlecht, also dass derzeit mehrheitlich Frauen und Kinder kommen, ins Feld geführt werden, um zu begründen, dass die Fluchtbewegung aus der Ukraine andere Voraussetzungen hat als etwa eine solche aus Nahost oder Nordafrika.

Zur Person

Jonas Wipfler ist Referent für Flucht und Migration beim katholischen Werk für Entwicklungszusammenarbeit Misereor.

Diese Argumentation verkennt rechtliche und politische Notwendigkeiten, wie schon die Äußerungen von Politiker:innen der Europäischen Union (EU) etwa aus Griechenland nach dem Fall Kabuls, dass, egal wer komme, niemand hereingelassen werde.

Oder dass Mauern entlang der Außengrenzen eine gute Idee seien, die die EU finanzieren solle, wie Minister:innen aus zwölf EU-Staaten forderten. Auch Polen, das nun mit einer überragenden Geste der Gastfreundschaft die meisten Neuankömmlinge aus der Ukraine aufnimmt und versorgt, hat noch im vergangenen Winter an seiner Grenze mit Belarus den Flüchtlingsschutz und die Menschenrechte von Geflohenen etwa aus dem Irak oder Syrien mit Füßen getreten. Von der seit Jahren unhaltbaren Situation Geflüchteter am und auf dem Mittelmeer erst gar nicht zu reden. So untergräbt man die Genfer Flüchtlingskonvention.

Gegenüber Afghanistan haben wir zudem noch ein besonderes Versprechen offen, nämlich allen denjenigen Menschen dort Schutz und Zuflucht zu gewähren, die nach der Machtübernahme der Taliban besonders gefährdet sind. Insbesondere Frauen- und Menschenrechtsaktivist:innen und den ehemaligen Ortskräften, die mit der Bundeswehr zusammengearbeitet haben.

Jüngste Berichte lassen ahnen, dass es landesweit durch die Taliban zunehmende Gewalt gegen Menschen abweichender Meinung gibt. Der Erlass, Mädchen und Frauen von weiterführender Bildung auszuschließen, zeigt die Wertlosigkeit von Zusicherungen und die absehbare Radikalisierung des Regimes. Für erklärte Gegner der Taliban und Schutzsuchende in Afghanistan wird die Zeit knapp – hier braucht es schnelle humanitäre Antworten Europas.

Geflüchtete haben den Anspruch auf ein faires Verfahren, auf Schutz und idealerweise – so wie im Fall der Ukrainer:innen – auf Integration vom ersten Tag an. Der Staat darf dabei keine Unterscheidung von Geflohenen nach Hautfarbe, Geschlecht, Religion oder kultureller Ähnlichkeit machen.

Die großartige Hilfsbereitschaft im Fall der Ukraine und die besondere Aufmerksamkeit gegenüber dieser Gruppe ist begrüßenswert, darf aber nicht dazu führen, dass andere Gruppen von Schutzbedürftigen weniger entgegenkommend behandelt werden, etwa aus Afghanistan, Syrien, Eritrea oder weiteren Konflikt- und Krisenregionen.

Im Flüchtlingsrecht wie im Flüchtlingsschutz darf es keine Rangfolge von besseren oder schlechteren Geflüchteten geben. Die kommenden Monate werden eine Bewährungsprobe für diesen Grundsatz sein, ebenso wie sie auch uns als Gesellschaft herausfordern dürften. Der Kompass muss dabei die Bewahrung die Genfer Flüchtlingskonvention sein.

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