Einwanderungsland auf dem Prüfstand

Die Ampel findet einen neuen Ton. Aber die „Festung Europa“ wird nicht in Frage gestellt. Ein Gastbeitrag von Dr. Elizabeth Beloe.
Zehn Punkte für die ersten 100 Tage hatten wir vom Bundesverband Netzwerke von Migrantenorganisationen mit seinen 20 lokalen Verbünden und 800 Mitgliedsvereinen, die nun wie viele andere sich bei der Unterstützung der Ukraine-Flüchtlinge engagieren, der neuen Bundesregierung mit auf den Weg gegeben. Und nun: Krieg und Flucht.
Was jetzt geschieht, stellt die Einwanderungsgesellschaft Deutschland erneut auf den Prüfstand. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir wollen einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird. Dafür brauchen wir einen Paradigmenwechsel.“ Das ist ein neuer Ton, den wir sehr begrüßen, dringend notwendig und überfällig. Was ist hiervon im Koalitionsvertrag und nach 100 Tagen zu erkennen?
Asylpolitik: Das Bleiben verbessert sich, die Situation an dem meisten EU-Außengrenzen bleibt skandalös.
Die neue Innenministerin hat rasch eine Initiative für einen Umbau der europäischen Asylpolitik ergriffen. Was daraus wird, ist unklar. Es ist nicht zu erkennen, dass die Grundarchitektur einer „Festung Europa“ infrage gestellt wird. Die Ukraine-Katastrophe verdeckt aktuell, dass die Lage der Geflüchteten an den EU-Außengrenzen nach wie vor menschenverachtend skandalös ist. Die Ansätze zum Bleiberecht weisen in die richtige Richtung, auch Asylsuchenden Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland zu eröffnen. Das ist ein humanitäres Gebot und nicht nur ein Erfordernis des Arbeitsmarkts.
Anti-Rassismus: Der Staat wird wachsamer, ein Sofortprogramm ist überfällig.
Der Koalitionsvertrag der „Ampel“ unterscheidet sich von seinen Vorgängern vor allem im Feld von Antirassismus, Bekämpfung des Rechtsextremismus und Antidiskriminierung deutlich; viele Forderungen aus der Mitte der Gesellschaft wurden aufgegriffen. Dass erstmals eine Bundesministerin am Gedenktag zum rassistischen Mordanschlag in Hanau anwesend war, die zügige Ernennung eines Beauftragten für Antiziganismus und einer Beauftragten für Antirassismus sind wichtige Signale. Aber: Die Umsetzung der vom Kabinettsausschuss der Vorgängerregierung beschlossenen Maßnahmen zum Antirassismus und gegen Rechtsradikalismus stagniert.
Unsere Forderung – schon aus dem Sommer 2020 – nach einem Sofortprogramm, das die dringendsten Maßnahmen bündelt, wurde und wird bisher nicht aufgegriffen. Zwar ist vorgesehen, Netzwerke antirassistischer Beratungsstellen zu fördern, aber die Aussagen über die Trägerschaft bleiben vage, obwohl der Vorschlag, sie Migrant*innen-Organisationen zu übertragen, schon lange auf dem Tisch liegt.
Migrant*innen-Organisationen: gebraucht, aber nicht als Partner „auf Augenhöhe“.
Das ist symptomatisch: Die Perspektive auf den Staat dominiert, Migrant:innen-Organisationen werden in ihrer Bedeutung für eine gute Einwanderungsgesellschaft unterschätzt. Das wird auch am Umgang mit den ungleich verteilten gesundheitlichen und sozialen Risiken der Corona-Krise deutlich: Obwohl es mittlerweile „die Spatzen von den Dächern pfeifen“, dass Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte überproportional negativ betroffen sind, ist die angebotene Partnerschaft mit gut vernetzten und breit aufgestellten Migrant:innen-Organisationen, die nahe bei den Menschen sind, nicht angenommen worden. Das scheint sich jetzt – angesichts der vielen Geflüchteten aus der Ukraine – zu wiederholen.
Ungleichheiten verschärfen sich.
Auch in Hinblick auf die Lebenslagen fehlt der differenzierte, an den sozialen Verwerfungen der Einwanderungsgesellschaft geschärfte Blick, und hier insbesondere noch einmal auf die Lage der Frauen. Zum Beispiel: Die Anhebung des Mindestlohns ist ein wichtiger Schritt, aber ohne eine Veränderung der Arbeitszeitsysteme geht es nicht. Der Koalitionsvertrag sieht verstärkte Maßnahmen gegen sexuelle Diskriminierung vor, ohne Mehrfachdiskriminierung durch Frauenfeindlichkeit und Rassismus in den Blick zu heben.
Kein Querschnittsansatz.
Wie die Migrant:innen-Organisationen wird auch die Bedeutung der lokal-kommunalen Ebene unterschätzt. Darin zeigt sich ein starkes Defizit der „Ampel“: Einwanderungsgesellschaft ist Wirklichkeit in allen Lebensbereichen der Menschen: Sie ist eine Querschnittsfrage. Aber genau dieser Querschnittsansatz fehlt. Fragen der Einwanderungsgesellschaft werden aber klassisch vor allem auf spezielle Politikfelder verengt. Aber: Einwanderungsgesellschaft ist eine Querschnittsfrage. Bis jetzt aber fehlt dieser Querschnittsansatz.
Dr. Elizabeth Beloe ist Vorsitzende des Bundesverbands Netzwerke von Migrantenorganisationen (www.bv-nemo.de ). Die „Zwischensichtung“ findet am 27 .März 2022 in Berlin und online statt.