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Der große KI-Irrtum

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Durch die Nutzung von KI-Systemen kann mehr Zeit und Raum bleiben für menschliche Empathie und Zuwendung.
Durch die Nutzung von KI-Systemen kann etwa im Gesundheitswesen mehr Zeit und Raum bleiben für menschliche Empathie und Zuwendung. © Monkey Business/Imago

Auch ChatGPT wird uns Menschen nicht überflüssig machen, schreibt Daniel Dettling. Dabei könne Künstliche Intelligenz dazu beitragen die größten Herausforderungen der Menschheit zu lösen. Der Gastbeitrag.

Unser Sohn schreibt seine Hausaufgaben mit Hilfe von ChatGPT. Einer der Lehrer stellt seit Jahren jeder Klasse die gleichen Aufgaben. Die künstliche Intelligenz besiegt die menschliche Faulheit. Die sprachbasierte KI ChatGPT unterstützt Schüler wie unseren Sohn dabei, seine Aufgaben effizienter, schneller und fehlerloser zu erledigen. Wie bei jeder neuen Technologie wird auch hier vor massiven Nebenwirkungen gewarnt: mangelnde Transparenz und Nachvollziehbarkeit, Diskriminierung durch Verzerrungen, Datenschutz und Privatsphäre.

Neu ist, dass diesmal die Kritik von Tech-Experten selbst kommt. In einem offenen Brief warnen Unternehmer wie Elon Musk und Apple-Mitgründer Steve Wozniak sowie der Starhistoriker Yuval Harari vor einem „unkontrollierten Wettlauf“ der künstlichen Intellligenz (KI). Die düstersten Schreckensszenarien werden an die Wand geworfen: Bald würden uns Maschinen ersetzen, der Verlust der Zivilisation drohe, die Menschheit werde die Intelligenz der Maschinen nicht mehr einholen können.

Schon vor Jahren hielt Musk künstliche Intelligenz für gefährlicher als Nuklearwaffen, Harari sah den Menschen zum Supercomputer und zum Homo Deus mutieren. Auffallend ist, dass unter den rund 1000 Unterzeichnenden des Briefes kaum Frauen sind. Fast ausnahmslos Männer reden über die Schrecken der kommenden Machtübernahme durch intelligente Computer und Maschinen.

Die KI-Debatte wird angetrieben von der menschlichen Urangst selbst überflüssig zu werden. Dabei kann KI dazu beitragen, die größten Herausforderungen der Menschheit zu lösen. Vorausgesetzt, wir räumen mit einem Mythos auf und stellen uns den Chancen der künstlichen Intelligenz.

Die Risiken sind bekannt: Millionen von Jobs können durch Automatisierung und künstliche Intelligenz vernichtet werden. Betroffen sind wiederholende (repetitive) Tätigkeiten und Jobs. Zur Überprüfung der ChatGPT-Texte und -Bücher wird es Tausende von Jobs im Journalismus, in den Verlagen oder den Büros und Kanzleien nicht mehr brauchen.

Dafür werden andere, besser bezahlte Jobs entstehen: Datenprüfer:innen und Urheberschützer:innen, Ethikbeauftragte und Haftungsfachleute. KI ist kein Jobkiller, sondern ein Jobshifter. Ihr Ziel ist die Verschiebung von unkreativen in kreativere, von routinierten in sozialere, von isolierten in kommunikativere Tätigkeiten. KI erzeugt Stress in der Gesellschaft, ist aber auch eine Befreiung von Möglichkeiten, die vorher unter Routinen verborgen waren.

Damit wertet KI menschliche Tätigkeit auf und nicht ab. Krankenpflegerinnen „pflegen“ nicht einfach nur Kranke, sie stehen in Beziehung mit ihnen. Barkeeper schütteln nicht nur Cocktails, sie praktizieren Seelen-Kommunikation. Journalistinnen und Journalisten produzieren nicht Information, sie erzeugen humane Deutungen.

Durch KI-Systeme kann Wissen gepoolt und dadurch Raum für menschliche Empathie geschaffen werden. KI verschiebt das Berufsspektrum in Richtung höherer Komplexität. Neue Tätigkeitsfelder und Jobs entstehen: Mediator:innen und Moderator:innen, Konnektor:innen und Kurator:innen, Coaches und Gesundheits-Provider, Achtsamkeits-Agent:innen und Schönheits-Designer:innen. Die Anzahl dieser Berufe wird die Anzahl der Tätigkeiten der alten Industriegesellschaft übersteigen und eine Freisetzung menschlicher Kreativität ermöglichen.

Die neue Arbeitsgesellschaft erfordert den klugen Einsatz von künstlicher Intelligenz sowie ein gesundes menschliches Selbstbewusstsein. Über kurz oder lang wird es dazu führen, dass wir uns vom Joch industrieller Lohnarbeit mit ihren vielen funktionalen Zwängen emanzipieren können. In der neuen, digitalen Arbeitsgesellschaft geht es um sozial wirksame Berufe und nicht um „Bullshit-Jobs“ (David Graeber). Künstliche Intelligenz kann helfen, die kommende Arbeitsgesellschaft zu einer humanen zu transformieren. Es entstehen neue Machtverhältnisse und neue Konflikte. Aber auch neues Selbstbewusstsein und eine neue Selbstwirksamkeit.

Was uns immer von Computern und Maschinen unterscheiden wird, ist die Fähigkeit, gute Fragen zu stellen. Gute Fragen fordern gängige Antworten heraus, indem sie diese infrage stellen. Eine gute Frage kann nicht vorausgesagt werden. Wir alle werden lernen müssen, wo wir die Grenzen zur künstlichen Entmündigung ziehen und wo wir mehr Verantwortung für unser Tun übernehmen müssen.

Die Verantwortung für die Folgen der künstlichen Intelligenz tragen wir Menschen, nicht die Maschinen. Wichtiger werden Vorbilder, denen wir vertrauen, weil sie Verantwortung übernehmen. Wie zum Beispiel Unternehmerinnen und Unternehmer, Lehrerinnen und Lehrer.

Daniel Dettling leitet das von ihm gegründete Institut für Zukunftspolitik (www.institut-zukunftspolitik.de). Eine Langfassung erscheint in der Juni-Ausgabe von „Kommunal“.

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