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Das Land erhebt sich

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Aktivistinnen verschiedener Parteien blockieren mit einer Sitzblockade die Fahrbahn der Autobahn Jammu-Pathankot, während sie Plakate halten auf denen unter anderem zu lesen ist „Keine Bauern. Keine Nahrung. Keine Zukunft.“.
Aktivistinnen verschiedener Parteien blockieren mit einer Sitzblockade die Fahrbahn der Autobahn Jammu-Pathankot, während sie Plakate halten auf denen unter anderem zu lesen ist „Keine Bauern. Keine Nahrung. Keine Zukunft.“. © Channi Anand/dpa

Bäuerinnen und Bauern brauchen weltweit eine ökonomische Perspektive. Sonst demonstrieren sie weiter. Der Gastbeitrag.

In Indien demonstrieren seit Herbst Hunderttausende Bäuerinnen und Bauern gegen die Einführung dreier Gesetze, die den Agrarmarkt liberalisieren sollen. Obwohl die Regierung um Premier Narendra Modi mit Repression reagierte und Delhi für Traktoren absperrte, sammelten sich immer mehr Landwirte vor den Toren der Hauptstadt. Die Demonstrationen bauten immer mehr Druck auf. Ende November unterstützten bei einem Generalstreik rund 250 Millionen Menschen die Bauerngewerkschaften.

Die immer länger werdenden Züge von Traktoren schufen beeindruckende Bilder, insbesondere als die Bäuerinnen und Bauern auch den Winter durch auf der Straße ausharrten. Letztlich durften sie dann in der Hauptstadt demonstrieren und die Aktivisten haben sich nun bis zur symbolisch wichtigen „Roten Festung“ durchgekämpft, wo Zehntausende Bäuerinnen und Bauern für ihre Forderungen einstehen.

Die umstrittenen Gesetze klingen nicht so dramatisch. Erst im historischen Kontext wird klar, warum Bäuerinnen und Bauern so wütend sind. Es geht um den Minimum Support Price (MSP), ein Festpreis, der den Bäuerinnen und Bauern garantiert wird. Dieser Mechanismus hat während der letzten Jahrzehnte den Bäuerinnen und Bauern einen existenzsichernden Lohn beschert und das gekaufte Getreide zu günstigen Preisen an die Bevölkerung weitergegeben. Seit 1943, als Indien von einer katastrophalen Hungersnot heimgesucht wurde, hat Indien Getreide subventioniert und im ganzen Land zur Verfügung gestellt.

Mit den neoliberalen Reformen der 1980er wurde dieses System abgebaut. MSP ist das letzte Überbleibsel dieses Systems. In den meisten Bundesstaaten wurde es bereits de facto abgebaut, aber in Punjab, Zentrum landwirtschaftlicher Produktion, entbrannte darüber nun der Protest. Die Regierung reagiert mit Unverständnis. Nach ihrer Darstellung befreien die neuen Gesetze die Landwirte davon, nur in den ausgewiesenen ländlichen Sammelstellen verkaufen zu können und ermöglichen ihnen, ihre Ernte auf dem offenen Markt zu höheren Preisen anzubieten.

Die Vereinigte Bauernfront „Samyuta Kisan Morcha“, die hinter den Protesten steht, winkt jedoch ab. Überall, wo dieses Versprechen umgesetzt sei, haben Bäuerinnen und Bauern den Kürzeren gezogen, sagen sie, weil die großen Agrarkonzerne niedrigere Preise diktieren können.

Felix Anderl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK).

Das hat zu Zerwürfnissen auf dem Land geführt. Insbesondere in den 1990ern gab es eine große Zahl von Selbstmorden unter indischen Bäuerinnen und Bauern, die nicht mehr wussten wie sie aus den Schulden bei Großkonzernen herauskommen sollten.

Der Einzug des Kapitals und der Vertragslandwirtschaft hat die Gewinne dieser Farmer nicht gesteigert, sondern Abhängigkeit von ausländischen Firmen und deren Patenten gebracht. In diesem Kontext ist der Aufmarsch indischer Bauern zu sehen.

In Indien arbeiten mehr als 60 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Die politische Kraft der indischen Landwirte wiegt deshalb schwer. Es solidarisieren sich eine große Zahl von Prominenten, Künstlern und Schauspielern mit den Protesten, die mittlerweile auch über die Agrargesetze hinaus auf Themen der Demokratie und der Kultur übergegriffen haben.

Insbesondere Sihks, die an den Massenmobilisierung zentral beteiligt sind, klagen über ihre mangelnde Repräsentation. Darüber hinaus wird der Verfall der Demokratie und die Arroganz der Politiker kritisiert. Das Land rebelliert gegen die als ungerecht empfundene Ordnung.

Dieser Aufstand des Landes ist kein indisches Phänomen. Allein im vergangenen Monat fanden in Berlin zwei große Aktionen statt. Zuerst mobilisierte das Bündnis „Wir haben es satt“ für mehr Nachhaltigkeit, Tierwohl, und Ökologie. Insbesondere das Verteilungsprinzip der EU-Agrarsubventionen und deren Diskriminierung von kleinen Höfen wurde hier kritisiert. Kurz danach mobilisierte eine Koalition von Bäuerinnen und Bauern („Landvolk schafft Verbindung“) zu ähnlichen Themen, jedoch mit stark nationalistischem Einschlag und gegen die als überfordernd empfundenen Öko-Richtlinien.

Die größten Bauernproteste in der Geschichte Indiens als auch die Zunahme von politischer Mobilisierung um Agrarthemen in Europa deuten darauf hin, dass etwas falsch läuft in der Landwirtschaft. Die hochgradig globalisierten Lieferketten in der Agrarbranche schlagen sich nicht in einer nachhaltigen Landwirtschaft mit fairen Preisen für die Bauern und Entwicklungsmöglichkeiten für das Land nieder.

Das Land wird sprichwörtlich gemolken – mit negativen Folgen für Mensch, Tier und Umwelt. Die Zukunft des Landes und eine bessere ökonomische Perspektive, insbesondere für kleinbäuerliche Betriebe ist eine der größten politischen Zukunftsfragen. Die derzeitigen Bauernaufstände sind ansonsten erst der Anfang.

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