Anderssein akzeptieren

Intergeschlechtliche Menschen sollten weder chirurgisch noch hormonell verändert werden. Der Gastbeitrag von Anike Krämer.
Am 26. Oktober ist Intersex Awareness Day. Seit 25 Jahren wird dieser Tag genutzt, um auf die Menschenrechtsverletzungen an intergeschlechtlichen Menschen aufmerksam zu machen. Schon wieder so ein Tag, an dem irgendeine Randgruppe irgendetwas will, so mögen Menschen meinen. Die angemessenere Reaktion wäre allerdings: Wie kann es sein, dass – durch Steuergelder finanzierte – Menschenrechtsverletzungen in Deutschland stattfinden? Und wie kann es sein, dass ich darüber nichts weiß? Das war jedenfalls meine Reaktion, als ich vor etwa zehn Jahren das erste Mal davon hörte.
Intergeschlechtliche Menschen werden mit Geschlechtsmerkmalen geboren, die nicht eindeutig in die medizinisch-biologische Definition von „weiblich“ oder „männlich“ passen. Das kann bedeuten, dass Genitalien nicht so aussehen wie erwartet. Zum Beispiel, wenn eine pränatale Chromosomenanalyse beim Kind XY-Chromosomen festgestellt hat, das Genital aber weiblich aussieht. Oder wenn die Klitoris eines Mädchens bei Geburt größer ist als erwartet. In beiden Fällen handelt es sich um eine Form von Intergeschlechtlichkeit (englisch: Intersex).
Es gibt noch viele weitere Ausprägungen. Manche zeigen sich im Laufe des ersten Lebensjahres, etwa wenn während einer Leistenbruchoperation beim vermeintlichen Mädchen Hoden im Bauchraum gefunden werden. Oder der Körper entwickelt sich in der Pubertät anders als vermutet. Intergeschlechtlichkeit ist keine Krankheit, sondern Varianten, wie Körper sich entwickeln können. Es können auch gesundheitsgefährdende Zustände mit einer Intergeschlechtlichkeit einhergehen, aber das ist die Ausnahme.
Wenn der Körper des Babys oder Kleinkindes chirurgisch und/oder hormonell verändert wird, finden Menschenrechtsverletzungen statt. Vor allem betrifft das die Operation der Genitalien – insbesondere derer, die als ‚auffällig‘ eingestuft werden – sowie die Entnahme der Keimdrüsen. Es liegt auf der Hand, dass die (chirurgische) Veränderung des Körpers nicht mit der informierten Einwilligung des Menschen passiert, an dem diese Eingriffe erfolgen. Das Kind ist schlicht zu jung. In der Regel stimmen die Eltern dem Eingriff zu.
Die medizinische Begründung lautet meist, dass mit einem eindeutigen Genital die psychosexuelle Entwicklung des Kindes besser verlaufe und dass es Eltern so leichter falle, ihr Kind zu akzeptieren und zu lieben. Die Folgen dieser Operationen können allerdings schwerwiegend sein: Neben körperlichen Nebenwirkungen, wie etwa wiederkehrenden Harnwegsinfektionen oder dem Verlust der Sensibilität, können auch psychische Probleme entstehen.
Zur Autorin
Anike Krämer ist Soziologin und erhielt für ihre Doktorarbeit „Inter* als Zäsur“ den Deutschen Studienpreis 2021 der Körber-Stiftung.
Trotz sukzessiv veränderter Leitlinien blieb die Häufigkeit von feminisierenden und maskulisierenden Operationen an (Klein-)Kindern zwischen 2005 und 2016 relativ konstant. Die UN stufte dies 2012 als Menschenrechtsverletzungen ein. Im Mai 2021 trat in Deutschland das „Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ in Kraft.
Ist das Menschenrechtsproblem mit diesem Gesetz gelöst? Nicht medizinisch notwendige Operationen oder Eingriffe ohne die informierte Einwilligung der betroffenen Person sind schließlich nun verboten. Allerdings sind Ausnahmen erlaubt, etwa wenn der Eingriff „für die Gesundheit des Kindes erforderlich“ ist.
Dieser breite Interpretationsspielraum könnte zum Beispiel dazu führen, dass Medizinerinnen und Mediziner mit der psychosozialen Gesundheit des Kindes eine geschlechtszuweisende Operation begründen, wenn Eltern Schwierigkeiten mit der Intergeschlechtlichkeit ihres Kindes haben. Die Frage, die sich deshalb weiterhin stellt, ist: Warum denken wir, dass es richtig ist, gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu verstoßen, um Kinder an unsere Vorstellungen von Männern und Frauen anzupassen?
Wenn ich in meinen Seminaren das über Jahrzehnte angewendete Behandlungskonzept der Medizin darlege, fragen die Studierenden: Warum finden diese Operationen statt, wenn man doch weiß, dass sie zu Traumatisierungen führen und dem Gesundheitszustand des Menschen schaden können? Ich kann darauf nur antworten: Weil es unserer Gesellschaft wichtig ist, dass es Männer und Frauen gibt.
Es ist uns sogar so wichtig, dass wir Kinder ohne ihre Einwilligung operieren. Dass wir ihnen vermitteln: Wir mussten dich ändern, damit wir dich akzeptieren konnten. Was macht das wirklich mit der psychischen Entwicklung eines jungen Menschen und der Eltern-Kind-Bindung? Und was sind das für Werte, die wir damit vertreten?
Das Verbot von geschlechtszuweisenden Operationen ohne informierte Einwilligung war ein wichtiger und lange überfälliger Schritt. Jetzt müssen wir uns dafür einsetzen, dass das Gesetz mindestens eingehalten und im besten Fall zu einem Umdenken in der Medizin – und langfristig auch in der Gesellschaft – führen wird.