Eine linke Mehrheit ist möglich

Die Ära nach Merkel hat begonnen. Es ist also höchste Zeit, eine Regierung links von CDU und CSU sowie AfD vorzubereiten. Ein Gastbeitrag von Katja Kipping.
Die Wahl zum Fraktionsvorsitz in der Unions-Fraktion brachte es ans Licht. Angela Merkel hat im Zweifelsfall keine Mehrheit mehr in ihrer Fraktion. Ihr Vertrauter, Volker Kauder, ist der Union inzwischen nicht mehr rechts genug. Inzwischen genügen wenige Worte um diesen Rechtsruck zu skizzieren: Seehofer, Chemnitz, Maaßen. Ein Teil des politischen Systems, der Konservativen wie der Sicherheitsbehörden, befindet sich offenbar auf einer Rutschbahn nach rechts außen.
Was kommt nach Merkel?
Angela Merkels Kanzlerschaft wird immer offener in Frage gestellt. Damit stellt sich die Frage: Was kommt nach Merkel? Kippt Deutschland nach rechts, in Richtung eines schwarz-blauen Bündnisses von Neoliberalen mit rechtsradikalen Kräften? Oder nutzen wir diese Krise des Konservatismus für einen Macht- und Regierungswechsel von links, für eine Regierung gegen den Rechtsblock – und damit für die Option, eine andere Politik zur Durchsetzung zu bringen.
Auch wenn eine entsprechende Mehrheit gerade im Bundestag nicht vorhanden ist, Länder wie Berlin und Thüringen zeigen, dass es geht. Auch wissen wir durch die Bewegungen um Bernie Sanders in den USA und um Jeremy Corbyn in Großbritannien, welche Begeisterung die Aussicht auf einen wirklichen Politikwechsel erzeugen kann.
Viele Menschen sahen lange Zeit klammheimlich in Angela Merkel so etwas wie einen liberalen Stabilitätsanker gegen das Chaos in der Welt. Merkel war sozialpolitisch immer neoliberal, aber gesellschaftspolitisch eben nicht rechts. Spätestens seit der Seehofer-Affäre wissen wir aber, dass auch diese Zeit abläuft. In der Sache hat Merkel Seehofers flüchtlingsfeindliche Positionen politisch akzeptiert. Teilweise wird schon in der Union einer Koalition mit der AfD das Wort geredet.
So gewann in Sachsen der Kandidat die Wahl zum CDU-Fraktionsvorsitz, der eine Koalition mit der AFD ausdrücklich nicht ausschließt. Das zeigt: Die Union ist eine bröckelnde Volkspartei, die aus Angst vor den neuen Rechten nach rechts abdriftet. Die Beliebtheit, die Merkel weiter im liberalen Milieu genießt, speist sich im Wesentlichen aus der fehlenden Attraktivität einer fortschrittlichen Alternative links der Union. Inzwischen ist klar: Wer immer nur das Schlimmste verhindern will, wird es am Ende mit Sicherheit bekommen.
Mit dem Merkelismus werden weder die Mieten in unserem Land für die Mehrheit wieder bezahlbar, noch wird dadurch die Rente armutsfest oder der Niedriglohnsektor abgeschafft, geschweige denn der Klimawandel gestoppt oder die Fluchtursachen nachhaltig bekämpft. Selbst demokratische Grundrechte wie der Schutz des Asylrechts werden nicht mehr ausreichend verteidigt. Ganz zu schweigen davon, dass die Früchte der Digitalisierung der ganzen Gesellschaft zu Gute kommen könnten. Denn es fehlt im herrschenden Politikbetrieb nicht nur an neuen Ideen, es fehlt auch an Mut aus dem scheinbar alternativlosen Weiter-so auszubrechen.
Die soziale Spaltung und die Ohnmachtserfahrung gegenüber „denen da in Berlin“ entladen sich daher in einer hemmungslosen Wut auf demokratische Grundwerte. Mit anderen Worten: Die Zeit der Wegmoderation gesellschaftlicher Konflikte und das politische Klein-Klein des puren Machterhalts sind abgelaufen. Eine „radikal-realistische Politik“ gegen Armut, Klimawandel, Rüstungswettlauf und Rassismus durchzusetzen – das geht nur mit einer Mehrheit links der Union. Denn soziale Sicherheiten müssen für die Vielen greifbar sein, sonst bleiben die liberalen Freiheitswerte ein Privileg der Wenigen. Und damit Europa keine autoritäre Festung wird, muss es weit mehr als nur ein Markt werden: Ein Leuchtturm sozialer Sicherheit und gesellschaftlicher Freiheit in einer stürmischen Welt. Das markiert den gemeinsamen Fluchtpunkt einer linken Alternative zum Europa der Rechten.
Linke Mehrheit ist keine Utopie
Dass eine entsprechende gesellschaftliche Mehrheit keine Utopie ist, zeigen die aktuell stattfindenden Bewegungen. Ob für den Frieden und gegen die Kohle, ob gegen autoritäre Polizeigesetze und für das Recht auf Rettung im Mittelmeer: Immer mehr Menschen wollen unser Land nicht kampflos den Rechten überlassen. Diese Bewegungen, ob nun „Seebrücke“, „Unteilbar“, „Ausgehetzt“ oder auch die jüngst gegründete Initiative „Aufstehen“ sind vielfältig. Mitunter stehen sie – etwa in der Flüchtlingsfrage – auch programmatisch im Widerspruch zueinander.
Insgesamt aber ist der Zuspruch zu ihnen Ausdruck einer Hoffnung auf andere Mehrheiten: Es gibt nicht nur Wut über den politischen Stillstand, es gibt auch eine reale Sehnsucht nach einem wirklichen Politikwechsel. Dies stellt einen Arbeitsauftrag an das gesamte progressive Lager dar: An Parteien wie Bewegungen, an Gewerkschaften wie den Kulturbetrieb, an Kirchen und Verbände, an Intellektuelle und Aktivist*innen, an SPD, Grüne und Linke.
Natürlich: So ein Projekt wird in diesem Land nur gegen starke Widerstände mächtiger Interessengruppen und großer Teile der Eliten zu erreichen sein und es wird nicht die Verwirklichung aller nötigen Utopien bringen. Aber es wäre in einer Stunde der Gefahr ein großer Schritt in die richtige Richtung. Denn es ist nicht egal, welche Politik eine der stärksten Volkswirtschaften Europas verfolgt – nicht für die Menschen hier, nicht für die Menschen anderswo und auch nicht für unseren Planeten als Ganzen.
Solch ein Macht- und Regierungswechsel von links, eine Regierung gegen den Rechtsblock muss vorbereitet werden. Sie kann nicht einfach Ergebnis parteipolitischer Verhandlungen nach der Wahl sein, sondern braucht ein Fundament in der Gesellschaft selbst. Sie muss im Parlament ebenso vorbereitet werden wie auf der Straße, in den Betrieben und in den Stadtteilen. Sie muss verschiedene Perspektiven und unterschiedlicher Milieus verbinden, gerade weil sich die fortschrittlichen Teile der Gesellschaft aus verschiedenen Horizonten und Erfahrungen speisen. Wir sollten sie produktiv machen und dabei unsere unterschiedlichen Zugänge zu den verschiedenen Milieus für ein gemeinsames Ziele nutzen.
Natürlich: Für niemanden wird dies ein Spaziergang. Der Weg wird auch innerhalb der jeweiligen Parteien umkämpft sein. Bei der SPD, weil sie immer noch insgeheim die vertraute Juniorpartnerschaft mit der Union dem unbekannten Neuen vorziehen, bei der LINKEN kommt hinzu, dass nicht wenige noch immer, durchaus aus nachvollziehbaren Gründen, prinzipiell skeptisch gegenüber Regierungsbeteiligungen sind.
Linke Mehrheiten vorbereiten
Doch nüchtern betrachtet müssen wir uns alle einer Tatsache stellen: Wenn wir verhindern wollen, dass auch Deutschland den Weg Österreichs, Ungarns oder Italiens geht, müssen wir andere Mehrheiten vorbereiten. Wenn wir der Ohnmachtserfahrung, aus der sich die Rechten speisen, etwas entgegensetzen wollen, braucht es ein umfassenden Projekt der gesellschaftlichen Veränderung; die Aussicht auf eine sozial-ökologische Wende; die realistische Hoffnung darauf, dass von links etwas möglich ist, dass den Kampf für soziale Sicherheit und mit dem für die Freiheitsrechte verbindet.
Ich schlage deshalb eine Zusammenarbeit für fortschrittliche Mehrheiten vor. Es geht dabei um eine klare Opposition zur autoritären Formierung und den Anspruch, andere Mehrheiten links von AfD und Union zu erarbeiten. Im Wissen um ihre Unterschiede sollten die verschiedenen Akteure zusammenkommen und konstruktiv nach vorne diskutieren.
Der Psychoanalytiker Reimut Reiche hat einmal gesagt: »Wenn wir uns in der Krise an das Alte klammern, kann nichts Neues entstehen. « In unseren Zeiten ist es für Viele schon so schwer an die Gegenwart zu glauben, dass sich eine gute Zukunft erst recht kaum jemand vorstellen kann. Aber wenn wir als progressiver Teil der Gesellschaft nicht einmal den Mut dazu haben, wer wird es tun? Ich schlage vor: Weigern wir uns, um die Gegenwart zu trauern. Trauen wir uns die Zukunft zu. Gemeinsam.
Katja Kipping ist Co-Vorsitzende der Partei Die Linke und Bundestagsabgeordnete.
Katja Kipping: „Neue linke Mehrheiten“ – Suche nach Wegen aus der Dauerschleife. Sie können Krisen diagnostizieren, aber was können sie noch? Katja Kippings „Einladung“ an „Neue linke Mehrheiten“.