Die Lehren von 2015

In ihrer Flüchtlingspolitik sollte Innenministerin Nancy Faeser die Kommunen einbinden. Sie muss den Verantwortlichen vor Ort Antworten geben, nicht erst beim Gipfel im Mai. Der Leitartikel.
Es war einmal ein Sommermärchen, als Deutschland seine Grenzen nicht geschlossen und syrische Geflüchtete willkommen geheißen hat. Tausende Kilometer hatten sie per Boot, mit Bussen und auch zu Fuß zurückgelegt, Kinder ertranken im Meer, Eltern verloren so ihr Leben, ohne zu sterben. Junge Männer strandeten ohne Halt. Aber die Bundesrepublik erfüllte die Hoffnung auf Schutz.
Menschen in Deutschland erlebten danach eine Achterbahnfahrt der Gefühle: Hilfe von Herzen und Dankbarkeit und schnelle Integration. Aber auch das genaue Gegenteil davon. Deutsche, die Fremde nicht mehr (oder noch nie) integrieren wollten, Geflüchtete, die sich nicht integrieren ließen. Vereine, Initiativen und staatliche Stellen, die vor lauter Überlastung viele nicht integrieren konnten.
Zurückgeblieben war neben dem Erfolg, etwa 800 000 Menschen vor dem brutalen Bürgerkrieg in Syrien gerettet zu haben, eine Reihe ungelöster Fragen: Wie können die Kulturen zusammenwachsen, wie wird die Unterbringung der Geflüchteten dauerhaft finanziert, wie werden sie in den Arbeitsmarkt integriert, wo Fachkräfte fehlen? Aber bevor Lehren für die Zukunft gezogen wurden, flohen eine Million Menschen aus der Ukraine vor Russlands Angriffskrieg nach Deutschland.
Wieder öffnete dieses Land seine Türen. Es mutete 2022 erneut wie ein Märchen an, dass Bahnhöfe schnell zu Auffanglagern umgerüstet wurden, Privatpersonen spontan Mütter und Kinder bei sich Zuhause aufnahmen und der Staat unbürokratisch die direkte Aufnahme in das Bürgergeld und damit den schnellen Wechsel auf den Arbeitsmarkt ermöglichte – auch wenn das in der Praxis oft nicht gelingt.
Deutschland und seine Menschen können und wollen grundsätzlich anderen in der Not zur Seite stehen. Nur: Künftig muss die Hilfe für Geflüchtete an die bestehenden Möglichkeiten angepasst werden. Nicht umgekehrt. Es ist nicht gut, wie Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) über den Hilfeschrei der Kommunen hinweggeht.
Sie mag Recht haben, dass Anfang April die genaue Finanzierung der Unterbringungskosten für das ganze Jahr nicht absehbar ist. Aber sie müsste sehen, wie sehr es längst an allem mangelt: Wohnraum, Lehrkräften, Kitaplätzen, medizinischem Personal. Es ist allzu menschlich, wie Faeser zu sagen, dass es angesichts des Leids vor allem durch Russlands Überfall auf die Ukraine keine Höchstgrenze für Menschlichkeit geben könne. Aber dann sollte sie auch sagen, was getan werden muss, damit andere Grenzen nicht überschritten werden müssen.
Etwa in dem 500-Einwohner-Dorf Upahl in Nordwestmecklenburg, wo ursprünglich ein Container-Dorf mit 400 Geflüchteten gebaut werden sollte. Ein solches Verhältnis kann nicht ernsthaft gewollt sein und verantwortet werden. Es mangelt grundsätzlich dramatisch an Wohnraum. Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) verfehlt krachend das Ziel von 400 000 neuen Wohnungen pro Jahr und rät, aufs Land zu ziehen, wo es noch freie Plätze gebe. Das wirkt fast zynisch. Da gibt es oft keine Arbeitsstelle oder keinen öffentlichen Nahverkehr.
Die Bundesregierung muss Antworten geben, nicht erst beim Flüchtlingsgipfel im Mai. Wie und wo sollen die zu erwartenden mehreren hunderttausend neuen Flüchtlinge in diesem Jahr beherbergt und versorgt werden?
Je länger die Ampel-Koalition die Debatte laufen lässt oder sie noch befeuert, desto größer wird die Verunsicherung und desto mehr profitieren radikale Randgruppen davon. Zumindest diese Lehre müsste aus der Flüchtlingsbewegung von 2015 längst gezogen worden sein: Die eigene Gesellschaft muss mitgenommen werden, sonst gelingt gar keine Integration. Ministerin Faeser verschätzt sich mit ihrer Flüchtlingspolitik der Distanz zu den Kommunen.