Wie vorhandene Technologien Tausende Menschenleben retten könnten

Verkehrstode sind in Deutschland der alltägliche Horror. 3000 Menschen sterben jährlich. Doch das müsste nicht sein.
Im TV-Krimi sieht man es öfters: Das leere Zimmer eines Ermordeten, die Trauernden und die Konflikte und schweren Krisen, denen die Hinterbliebenen ausgesetzt sind. Selten hingegen nehmen wir die Folgen und Verwerfungen wahr, wenn es um Tote und schwer verletzte Menschen bei Verkehrsunfällen geht. Diese Zeilen entstehen am Rande einer Urlaubswoche in Südtirol, wo die Fahrt eines rasenden Betrunkenen vor kurzem sieben junge Menschen in den Tod riss; noch jetzt ist dort die Tragik des Geschehens Thema.
Das „Opfer“ – ein merkwürdiger Ausdruck – eines Verkehrsunfalls zu werden: Ist es „Schicksal“ und kaum vermeidbar? Nein, der Verkehrstod wäre durch Technik und Gesetze viel stärker reduzierbar und die jetzigen Zahlen sind Ausdruck von Ignoranz eines alltäglichen Horrors.
Deutschland: Immer weniger Verkehrstode - doch ist das befriedigend?
Leserbriefschreiber in der jüngst erneut geführten Debatte um ein Tempolimit wussten es besser: Die Zahl der „Verkehrsopfer“ sinke doch seit Jahren, hieß es. Und der ADAC brachte bereits Anfang Dezember 2019 eine Schätzung in die Presse, die für das Jahr ein weiteres Absinken auf knapp 3000 Tote prognostizierte. Ist das nicht befriedigend? Ist es in Ordnung, dass in Deutschland in den letzten zehn Jahren zwischen 30.000 und 40.000 Menschen im Verkehr starben?
Es ist ein riesiger Skandal, verdeckt durch die Psychologie der „kleinen Zahl“, die Todesfälle treten vereinzelt und nicht zeitgleich, wie bei einem Flugzeugabsturz, auf. Sie sind zudem weniger spektakulär. Schon ein Segelflugzeug, das abstürzt, macht mehr Schlagzeilen als ein Autounfall. Vier Tote bei einem Horrorunfall nahe Dransfeld bei Göttingen am 21. Dezember 2019, fast eine Dimension wie in Südtirol, traumatisierte Retter und Angehörige – haben Sie das irgendwo gelesen? Oder über den Frontalcrash bei Hilgert Anfang 2020, drei Tote?
Deutschland: Verkehrstoden-Statistik nur beschönigt - Dauerschäden bleiben unerwähnt
Die Zahlen der Verkehrstoten müssen zudem noch ergänzt werden. Ein „Verkehrstoter“ ist nur, wer innerhalb von 30 Tagen nach dem Unfall stirbt. Ganz wesentlich trägt zur Reduktion der offiziellen Zahl der Verkehrstoten also auch der erfreuliche Fortschritt von Unfallrettung und -medizin bei, der allerdings die oft gravierenden Dauerschäden bei schwersten Verletzungen nicht verhindern kann.
Die technische Möglichkeit wäre da, die Zahlen der Verkehrstoten und Schwerstverletzten wirklich nahe an den Wert null zu bringen. Während Landesväter stolz Teststrecken für autonome Autos einweihen, existieren Technologien, die sofort einen Großteil der Unfälle vermeiden könnten.
Technologien könnten Verkehrstode in Deutschland zur Seltenheit machen
Eine Auswahl: Alkohol Interlock (Zündschlosssperre bei Alkohol im Atem), Notbremsassistent gegen Auffahrunfälle für alle Fahrzeuge, elektronische Sicherung des Einhaltens der Geschwindigkeitsbegrenzung. Machbar ist auch automatisches Verhindern von Überholvorgängen bei Überholverboten, das Erkennen von Radfahrern beim Abbiegen mit Zwangsbremsung bei deren Gefährdung. Möglich ist eine ordentliche Verkehrsplanung, die auf Unfallanalyse basiert. Bringt wenig? Die norwegische Hauptstadt Oslo hatte in den vergangenen fünf Jahren nur genau einen Verkehrstoten zu beklagen, und das noch ohne wirkliches Ausschöpfen der Autotechnik.
Im Jahr 2011 verabschiedeten Ingenieure des VDI, darunter zahlreiche aus der Autoindustrie, die „Berliner Erklärung zur Verkehrssicherheit“. Das Ziel: null Verkehrstote, „Vision Zero“ – bis 2030 zu erreichen. Als Zwischenziel legten sie für 2020 eine Halbierung der Anzahl der Verkehrstoten fest. Tatsächlich hat sich ihre Zahl seit 2011 nur etwa um ein Viertel vermindert, das Zwischenziel wird klar verfehlt, und damit ist auch das Ziel in 2030 kaum mehr erreichbar.
Debatte um Verkehrssicherheit in Deutschland desaströs
Die Debatte um Verkehrssicherheit läuft desaströs, unnötiges Leid und Trauer in Tausenden Fällen könnten wir verhindern. Die Autoindustrie verfügt über die nötigen Techniken. Sowohl der Alkohol Lock als auch die elektronische Geschwindigkeitsbremse hätten den Unfall in Südtirol verhindert.
Diese Techniken werden oft völlig krude als „Freiheitsbeschränkung“ diffamiert. Im Alleingang will kaum eine Firma sie einführen – die Kosten und ein falsches Image würden, so die Furcht, Kunden zur Konkurrenz treiben. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer ist gefordert.
Bisher haben er und seine Vorgänger außer schönen Reden wenig geliefert, obwohl „Vision Zero“ sogar im Koalitionsvertrag der großen Koalition steht. Die mehr als 3000 Toten im Jahr 2019 sind die katastrophale Quittung für deren fehlendes Engagement.
Helmut Holzapfel ist Verkehrswissenschaftler in Kassel. Der Ingenieur und Stadtplaner war bis 2015 Professor an der Universität Kassel. Heute leitet er das dortige Zentrum für Verkehrskultur.