Corona-Krise - Wer sind die, die jetzt am lautesten jammern?

Wir singen: „Alles wird wieder gut.“ Und wenn es so weit ist, fliegen wir wieder dorthin, wo auch ohne Coronavirus das Leben wegen uns nicht einfach ist. Die Kolumne.
Eigentlich ist es doch schlimm genug. Uns drangsaliert ein Virus. Das ist schlimm. Aber wie schlimm? Auf welcher Stufe einer Skala von eins bis zehn befinden wir uns?
Die meisten unserer Mitmenschen wähnen sich offensichtlich bei zwölf mit steigender Tendenz. Ihnen sei gesagt: Ja, es gibt gute Gründe zur Vorsicht. Dieser Erreger will nicht nur spielen (interessant übrigens, dass alle seit Beginn der Epidemie hochwissenschaftlich von „das Virus“ reden und nicht mehr plebejisch von „der Virus“). Doch es gibt keinen einzigen Grund zur Übertreibung. Menschen sterben, andere gehen Bankrott, das ist fürchterlich.
Coronavirus - keine Partys und kein Fußball
Das Schicksal derer, die nun aber am lautesten jammern, besteht aber darin, sich zu Hause vollfressen zu müssen und nicht mehr im Restaurant. Nicht mal selbst kochen müssen sie, man bringt ihnen das Essen bis vor die Tür (wieso gibt es eigentlich keinen Mangel an Einwegverpackungen? Beim Klopapier ging das doch auch). Das ist wichtig, denn „Einkaufen im Supermarkt kann geradezu zur Herausforderung werden“ („Die Drehscheibe“, ARD).
Als wäre das nicht schlimm genug, sind wir gezwungen, keine Partys mehr zu feiern, nicht mehr zum Fußball zu dürfen, keine Urlaube zu machen, Freunde nur einzeln und mit 1,5 Metern Abstand zu treffen und viel Zeit mit unserer Familie zu verbringen.
In der Corona-Krise werden die deutschen kreativ
Um die Folgen dieser kaum zumutbaren Umstände zu lindern, sind wir wahnsinnig kreativ geworden. Lechzend saugen wir Sendungen wie „Lafer kocht“ auf, die das ZDF dankenswerterweise aus dem Nichts gestampft hat (Lafer im Halbdunkel in die wackelnde Handykamera: „Das ist so was von Wahnsinn, das ist mein Milchreis“) und, schlimmer noch, wir setzen uns auf unsere heimischen Kanapees, trällern rasch komponierte Wir-haben-uns-alle-lieb-Liedchen und quetschen sie ins überquellende Netz.
Denn schauet, Völker der Welt, wir sind gar nicht so deutsch, wie Ihr alle meint. Wir können sogar wie die Italiener. Die Ergebnisse kommen allerdings meist so preußisch gestelzt daher, dass man selbst dem Mainzer Fastnachtssänger Ernst Neger sizilianische Herkunft attestieren könnte.
Der nämlich spendete nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Mutmachweise „Heile, heile Gänsje“ dem in Schutt und Asche vegetierenden deutschen Volk Trost und Hoffnung – und hatte gute Gründe dafür. Aber wir?
Auch ohne Corona sterben täglich Zigtausende
Etwa 200.000 von uns dürfen nun daheim mitdarben, denn sie wurden von der Bundesregierung reich ins Heim geflogen, weil sie sich dort befanden, wo sie vor wenigen Wochen noch hinflogen, um dem tristen grauen deutschen Alltag zu entfliehen. Sie profitieren nun von einer der besten medizinischen Versorgungen der Welt, währen jene, die sie im Urlaub gastfreundlich umsorgt hatten, nun liebend gerne nur keine Nudeln und kein Klopapier hätten. Dumm gelaufen, sie haben halt den falschen Pass.
So singen wir weiter unsere Liedchen, halten uns an Ernst Neger („wird alles wieder gut“), und wenn es dann soweit ist, fahren wir wieder los. Durchpflügen kreuzfahrend die Kanäle von Venedig und fliegen für den Jahreslohn eines Arbeiters in der von uns so genannten Dritten Welt dorthin, wo auch ohne Corona täglich Zigtausende auf unsere Kosten an Hunger und Durst verrecken. Wir müssen uns schließlich erholen von dieser grauenhaften Zeit.
Michael Herl ist Theatermacher und Autor.