Wie Ausgrenzung statistisch vererbt wird

Ein Viertel der Menschen im Land erhält das Etikett Migrationshintergrund. Das ist beunruhigend. Nicht, weil Überfremdung droht, sondern weil Vorurteile verfestigt werden. Der Leitartikel der FR.
Heute schon jemanden mit Migrationshintergrund getroffen? Wahrscheinlich ja, und Sie haben es vielleicht gar nicht gemerkt. Denn es werden immer mehr. Fast ein Viertel der Menschen in Deutschland gehöre inzwischen in diese Kategorie, hat das Statistische Bundesamt dieser Tage mitgeteilt. Vor einem Jahr war es erst ein gutes Fünftel.
Der Zuwachs ist durchaus ein Grund zur Beunruhigung. Nicht, weil das irgendetwas über überbordende und die Grenzen unserer Belastbarkeit sprengende Zuwanderung aussagen würde. Vielmehr, weil es etwas sagt darüber, welchen Schaden eine Kategorie anrichten kann, die keinen Sinn mehr hat, aber weiter Menschen übergestülpt wird.
Was ist ein Migrationshintergrund?
Was ist überhaupt ein Migrationshintergrund? Wenn Sie die Definition nicht kennen, stehen Sie nicht allein. Sie hat, anders als Sie vielleicht vermuten, wenig zu tun mit physischer Zuwanderung. Dafür umso mehr mit dem Pass, und immer häufiger gar nicht mal mit dem eigenen: Einen Migrationshintergrund hat man nämlich, wenn man selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutschem Pass geboren wurde. Er ist ein soziales Erbmerkmal, 2005 staatlich verordnet und erhoben im jährlichen Mikrozensus.
Stellen wir uns die 16-jährige Jasmin vor, Vater Vermessungstechniker, Mutter Lehrerin, beide Eltern in den 80ern im Ruhrgebiet geboren. Jasmins Großeltern: Gastarbeiter aus der Türkei und Jugoslawien. Jasmin ist von Geburt an Deutsche, dank der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000. Doch weil die Reform viel zu spät kam, sind Jasmins Eltern in Gelsenkirchen und Bochum noch als Türkin und Jugoslawe zur Welt gekommen. Längst sind sie eingebürgert.
Die amtliche Statistik stülpt aber allen drei Deutschen trotzdem einen Migrationshintergrund über. Wurden sie gefragt, ob sie sich als Migranten fühlen? Nein. Welchen Nutzen hat die Kategorisierung für die Familie, die Gesellschaft oder gar für die öffentliche Sicherheit? Keinen.
Zehn Millionen Deutsche sind betroffen
Der Fall ist konstruiert, aber in dieser Konstellation häufig. Fast zehn Millionen Deutsche hierzulande sind betroffen und 1,5 Millionen Mitbürger mit ausländischem Pass, die hier geboren und nie irgendwo eingewandert sind. Sie alle stecken in der Schublade „mit Migrationshintergrund“.
Die Zuschreibung ist bestenfalls sinnfrei, wie beim Sprössling des indischen Investmentbankers oder der Tochter der britischen Sprachlehrerin. Aber die Risiken sind erheblich. Sie sind zum Beispiel zu beobachten, wenn junge „Menschen mit Migrationshintergrund“ auffällig werden, Straftaten begehen, sich radikalisieren. Flugs ist bei behördlichen und medialen Erklärungsversuchen der Migrationshintergrund auf dem Tisch. Deutlich unpopulärer ist in solchen Fällen die Deutung, dass pubertäre Entgleisungen, Bildungsdefizite, familiäre Probleme dahinterstecken könnten.
So festigen sich nicht nur ethnisch-religiöse Klischees. So verschieben sich dann irgendwann auch politische Prioritäten. Auch deshalb wird die öffentliche Debatte bei uns, statt über nötige Investitionen in bessere Jugend-, Sozial- und Bildungspolitik zu streiten, von lauten Rufen nach mehr Überwachung, mehr Polizei und mehr Abschiebung beherrscht.
Das allein wäre schon Grund genug zur Unruhe. Hinzu kommt: Wenn sich unter dem Hashtag #MeTwo Tausende hier beheimatete Menschen ihren Frust über rassistische Alltagserfahrungen von der Seele twittern, dann ist etwas schiefgelaufen im Land. Wenn Fatma und Hassan immer wieder nach ihrem Geburtsland gefragt werden, Aljoscha und Kimberley aber nicht, findet offenbar in zu vielen deutschen Köpfen eine Einteilung statt, wer hier dazugehört und wer nicht.
Dahinter mag in den meisten Fällen Gedankenlosigkeit stecken – ausgrenzend wirkt es dennoch. Die Kategorie Migrationshintergrund trägt nicht unwesentlich dazu bei, auch weil sie ebenso missverständlich wie inzwischen allgegenwärtig ist und wie ein Nebel den Blick auf die Wirklichkeit verstellt.
Ein Blick ins Ausland hilft
Was ist die Alternative? Wie so oft bei Fragen der Einwanderung hilft ein Blick ins Ausland, um zu lernen, wie es besser geht. Deutlich näher an der Migrationsrealität ist etwa Schweden, wo ein Kind mit schwedischem und ausländischem Elternteil schlicht als schwedisch gilt, nicht mehr als Einwandererkind. Weiter geht Großbritannien: Da spielt die Einwanderungsgeschichte der Eltern gar keine Rolle mehr, sondern nur die eigene. Und vor allem: Im britischen Zensus können die Menschen sich selbst einer „ethnischen“ oder „nationalen“ Gruppe zuordnen. Die Betroffenen entscheiden selbst, ob sie sich als Brite, Inder oder Pole verstehen.
Die deutsche Einteilung anhand des Passes in Menschen mit und ohne Migrationshintergrund ist dagegen überholt. Sie spaltet und sagt nichts über das Selbstverständnis derer, die hier zusammenleben. Die Menschen sollten vielmehr selbst Auskunft geben dürfen über ihr Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Gesellschaft (und vielleicht zugleich einer anderen).
So könnten nicht nur Fehlentwicklungen besser erkannt und früh angegangen werden. Vor allem würde endlich die Wahrnehmung geschärft, wie vielfältig – jenseits des Passes – Identitäten sein können. Und wie normal das bei uns längst ist.