Abschieben statt Ursachen bekämpfen

Europäische Politiker beseitigen eher die Flüchtlinge als die Fluchtursachen. Das war bereits vor 25 Jahren so, als Albaner über die Adria nach Italien flohen. Der Leitartikel.
Jeder europäische Politiker weiß: Für eine erfolgreiche Flüchtlingspolitik ist nicht die Beseitigung der Fluchtursachen entscheidend, sondern die Beseitigung der Flüchtlinge. Entsprechend befasst sich die europäische Debatte zur Flüchtlingspolitik seit Monaten, seit Jahren beispielsweise nicht mit dem dringend gebotenen Ende der Subventionen in der europäischen Landwirtschaftspolitik, die afrikanische Bauern – insbesondere in den Staaten Westafrikas – in die Knie zwingen und von ihrem Grund und Boden vertreiben. Weil nicht die Fluchtursachen interessieren, sondern ausschließlich die möglichst effektive Abwehr der Flüchtlinge, wird auch Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihren Besuchen in Ägypten und Tunesien über die Rückführung der Flüchtlinge verhandeln, die die Überquerung des Mittelmeeres überlebt haben.
Afrikanische Staaten als Türsteher
Nachdem alle Versuche, die Grenzen Europas unüberwindlich zu machen, sich als vergeblich erwiesen haben, selbst der Einsatz von Drohnen und Satelliten zur Grenzüberwachung sich nicht nur als unzureichend, sondern als kontraproduktiv herausgestellt hat – die Menschen wurden dadurch nur auf neue, gefährlichere Fluchtwege gedrängt, das Geschäft der Schleuser wurde immer lukrativer –, sollen nun afrikanische Staaten zum Abfangen der Flüchtlinge und ihrem Fernhalten von den Grenzen Europas verpflichtet werden. Die Europäische Union spricht von „Partnern“, die Menschenrechtsorganisation „Pro Asyl“ bezeichnet sie zu Recht als „Türsteher“.
Der Gedanke, eine erfolgreiche europäische Flüchtlingspolitik bestehe darin, sich Flüchtlinge vom Hals zu halten, ist nicht neu. Vielmehr haben die Europäer bei seiner Umsetzung schon vor einem Vierteljahrhundert beachtliches Geschick bewiesen. Vor 25 Jahren, im März 1992 brachten gewaltige Hubschrauber der italienischen Luftwaffe jeden Tag 1800 Tonnen Nahrungsmittel von der Küstenstadt Bari in das politisch und wirtschaftlich bankrotte Albanien, wo die schlimmste europäische Hungersnot seit dem Zweiten Weltkrieg drohte.
Im Sommer des Vorjahres waren Zehntausende Albanerinnen und Albaner geflüchtet, 11 000 hatten mit einem kaum noch manövrierfähigen Frachtschiff die Blockade im Hafen von Bari durchbrochen. Auf dem Quai warteten Polizisten, Fernsehteams und Krankenwagen. Als die Albanerinnen und Albaner an Land gingen, prügelten die Polizisten auf sie ein – vor laufenden Kameras. Die Auseinandersetzungen endeten damit, dass die Albaner in das Fußballstadion von Bari gesperrt wurden, wo man sie durch Hubschrauber mit Nahrungsmitteln versorgte.
Nach langwierigen Verhandlungen wurde der Großteil der Albaner mit Schiffen in ihre Heimat zurückgebracht. Den letzten – teilweise bewaffneten – Widerspenstigen versprachen die Behörden die Aufnahme in Italien. Einige Tage später hat man sie nachts geweckt und ihnen gesagt, sie würden auf verschiedene italienische Regionen verteilt. In Wahrheit lud man sie in Militärflugzeuge und flog sie zurück nach Tirana. Die damalige Europäische Gemeinschaft bezeugte der italienischen Regierung tiefes Verständnis.
Respekt bekundete auch die Trilateral Commission, eine Gruppe politischer, akademischer und wirtschaftlicher Führungspersönlichkeiten aus USA, Westeuropa und Japan, die einen Beitrag zur besseren Zusammenarbeit der drei Wirtschaftsmächte leisten soll. Sie zeigte sich besonders davon beeindruckt, dass die italienische Regierung zuerst das Fernsehen gerufen habe und erst dann auf die Albaner einschlagen ließ, um diejenigen abzuschrecken, die noch in Albanien waren und dort das italienische Fernsehen empfingen. Der damalige Präsident der Unioncamere, der Dachorganisation der italienischen Industrie- und Handelskammern, bemerkte erstaunt, die „ausländische Elite“ habe die „machiavellistische Lösung“ der italienischen Regierung gepriesen. Wenige Monate später brachten die Hubschrauber der italienischen Luftwaffe die Nahrungsmittel für die vom Hungertod bedrohten Albaner nach Tirana und das Flüchtlingsproblem war gelöst.
Damals haben die Europäer begriffen, dass die erste Bedingung einer erfolgreichen Flüchtlingspolitik keineswegs die Beseitigung der Fluchtursachen ist, sondern die Beseitigung der Flüchtlinge. Sie haben damals auch gelernt, dass wichtiger als die Beseitigung von Flüchtlingen das Fernhalten der Flüchtlinge von europäischen Küstengewässern ist (selbst wenn die Heimat der Flüchtlinge selbst zu Europa gehört, wie im Fall Albaniens).
Nicht die Hungersnot in Albanien war also das Problem, sondern das Unglück, dass der Frachter mit den 11 000 Albanern an Bord die 80 Kilometer zwischen der albanischen Küste und Bari hatte zurücklegen können und die Blockade durchbrach. Ein aktuelles Problem. Wie damals, suchen auch heute die Europäer nach einer „machiavellistischen Lösung“. Zuversicht ist angezeigt – darum waren die Europäer noch nie verlegen.