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Wie in den 90ern

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Das Grundrecht auf Asyl darf nicht verschärft werden. Deutschland benötigt vielmehr ein Einwanderungsgesetz.

Von Sonja Hegasy

Brauchen wir eine weitere Verschärfung des Asylrechts? Schon seit über zwanzig Jahren diskutiert Deutschland über sein historisch gewachsenes Asylrecht und ringt mit sich um ein Einwanderungsgesetz. Innerhalb der SPD war diese Frage Anfang der neunziger Jahre heftig umstritten. Nach scharfen innerparteilichen Kontroversen gab die SPD am 6. Dezember 1992 ein zentrales Element ihrer sozialdemokratischen Identität auf.

Gegen den Willen vieler Landesverbände stimmte die Bundes-SPD mit der schwarz-gelben Regierungskoalition für eine Änderung des deutschen Grundrechts auf Asyl: Seitdem wird Artikel 16a des Grundgesetz eingeleitet mit: “(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.“ Diese atemberaubende Aushebelung des deutschen Asylrechts trat als sogenannte Drittstaatenregelung in Kraft. Viele SPD-Delegierte gaben ihre Zustimmung erst nach langem Zögern aufgrund der Ankündigung eines Einwanderungsgesetzes. Ein solches gibt es auch zwei Jahrzehnte später noch nicht. Die Folgen davon spüren wir heute.

Lange Zeit ging es uns Deutschen sehr gut hinter einem Gürtel von direkten Mittelmeeranrainerstaaten. Die Last, Geflüchtete zurückzudrängen, Tote aus dem Meer zu fischen und Ankömmlinge aufzunehmen trugen in erster Linie Spanien, Italien und Griechenland. Frontex war für uns bis vor kurzem ein Fremdwort. Nun ist es an Deutschland, Solidarität zu zeigen mit seinen europäischen Bundesgenossen. Und es ist kein Jammer, wenn die Dublin-II-Verordnung nun zu Ende ist. Natürlich muss es Grenzkontrollen an den Außengrenzen der EU geben. Aber sie dürfen nicht dazu führen, dass Länder im Inneren der EU kaum noch legal zu erreichen sind.

Am 30. und 31. Oktober 1992 saß ich als Landesparteitagsdelegierte im Berliner ICC. Unter der Überschrift „Flüchtlingen helfen, Zuwanderung steuern, Gemeinden entlasten“ wurde die Grundgesetzänderung diskutiert. Oskar Lafontaine verteidigte das SPD-Sofortprogramm vor den Delegierten. Die Jusos zogen mit Spruchbändern „Rassismus auf Raten Sozialdemokraten?!“ und „Denkt dran: Auch Willy Brandt war Asylant!“ durch den Raum. Die Stimmung im Saal war aufgeheizt.

Lafontaine verstieg sich zu dem – auch heute wieder aus der Tasche gezogenen – Argument, ein einzelner Industriestaat könne nicht alle politisch Verfolgten dieser Welt aufnehmen. Es könne kein „Zutrittsrecht für jeden Erdbewohner“ geben – so unpräzise aber sei der Artikel 16 Grundgesetz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ schließlich formuliert. Das ist eine polemische Überspitzung. Lafontaine legte seine These dar, nach der eine Gesellschaft keine Zuwanderung verkraften könne, die höher sei, als die Geburtenrate pro Jahr. Damals lag die Zahl der Neugeburten bei rund 800 000. Gleichzeitig wurden über 400 000 Asylanträge gestellt, drei Viertel davon aus Europa, insbesondere aus dem ehemaligen Jugoslawien. Hinzu kamen 400 000 Aus- und Übersiedler in Folge des Zerfalls der Sowjetunion. 2014 kamen in Deutschland 714 927 Kinder zur Welt. 800 000 ist also keine magische Zahl, die nicht zu bewältigen wäre.

Als Zuzug 1990 aus dem Westen der Bundesrepublik nach Ost-Berlin war ich erst knapp ein Jahr vor dem „Asylkompromiss“ in die SPD Prenzlauer Berg eingetreten. Und hätte, wie 50 000 andere Genossen, aufgrund dessen eigentlich gleich wieder austreten müssen. Nur schien mir das so kurz nach meinem Eintritt widersprüchlich, denn ich war Mitglied der SPD geworden, um hier das Zusammenwachsen von Ost und West mitzuerleben. Die Geschichten der älteren Genossen, die schon vor der Zweiteilung Deutschlands Mitglied dieser Partei waren und das Ende des Zweiten Weltkriegs in Berlin miterlebt hatten, faszinierten mich.

Das Asylrecht für politisch Verfolgte ist zentrales Erbe aus dieser Geschichte. Rund eine halbe Million Deutsche und Österreicher konnten zwischen 1933 und 1945 emigrieren; viele aber fanden keine Möglichkeit ins Ausland zu flüchten. Wie überlebenswichtig das politische Asyl in der Schweiz, in Norwegen und anderen Ländern war, wissen wir. Wie tödlich es für viele verlief, die kein Asyl bekamen wurde, ist ebenfalls bekannt. Sie kamen auf dem Fußweg in den Alpen oder in den Pyrenäen um. Viele, die kein Visum bekamen oder nicht genug Geld für die Reise hatten, begingen Selbstmord. Dies ist heute nicht viel anders. Nur das Deutschland sich bis zu diesem Sommer hinter einem Ring von Schengenländern befand. Ein Teil der Verantwortung aus der deutschen Geschichte sollten wir auch in Zukunft durch das uneingeschränkte, individuelle Asylrecht für politisch Verfolgte übernehmen.

Geschehenes Unrecht kann nicht wiedergutgemacht werden. Aber wer möchte, dass zukünftige Generationen für die Geschichte ihrer Nation Verantwortung übernehmen, der darf die 1949 im Grundgesetz verankerten Grundrechte nicht über Bord werfen: Was tun? Artikel 16 des Grundgesetzes muss nicht verschärft werden. Im Gegenteil, er sollte in seiner Originalfassung wieder hergestellt werden, um den Realitäten wie der auch der deutschen Geschichte Rechnung zu tragen. Europa muss sich darüber hinaus auf eine gerechte Lastenverteilung einigen und Deutschland muss dringend sein lang versprochenes Einwanderungsgesetz verabschieden.

Sonja Hegasy ist Vizedirektorin des außeruniversitären Zentrums Moderner Orient in Berlin.

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