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75 Jahre nach Kriegsende: Die tägliche Befreiung

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Von: Stephan Hebel

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Es lohnt sich, den Tag des Kriegsendes zu begehen. Auch als Erinnerung an das, was jetzt zu tun ist. Der Leitartikel.

Wir schreiben den 8. Mai 2020. Deutschland begeht den 75. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung von der Nazi-Diktatur, und am Blauen Nil in Äthiopien geht ein riesiger Staudamm seiner Fertigstellung entgegen. Was, bitte, haben beide Vorgänge miteinander zu tun?

Zunächst einmal dies: Zwischen Äthiopien und Ägypten droht das, was Deutschland seit 75 Jahren nicht mehr auf eigenem Territorium erleben musste: Krieg. Ägypten fürchtet um das Nilwasser, von dem es existenziell abhängig ist. Ohnehin bedroht der Klimawandel die Region mal mit mehr Dürren, mal mit mehr Überschwemmungen.

Äthiopien dagegen zählt zu den ärmsten Ländern der Welt, viele Menschen dort haben keinen Strom, die Regierung des Friedensnobelpreisträgers Ahmed Abiye hofft auf einen ökonomischen Entwicklungsschub durch den Damm.

8. Mai: 75 Jahre nach Befreiung vom Nationalsozialismus - Den Slogan „Nie wieder Krieg“ ernst nehmen

Das alles klingt noch nicht zwingend nach einem Grund, sich an diesem Gedenktag in Deutschland besonders intensiv für die Kriegsgefahr am Nil zu interessieren. Oder vielleicht doch? Natürlich tragen die direkt beteiligten Regierungen – in Ägypten ein diktatorisches Regime – Verantwortung für die Konflikte, an denen sie beteiligt sind. Und fast immer spielt das Gift des Nationalismus, mit dem die Herrschenden ihre Bevölkerungen von Armut und Ungerechtigkeit abzulenken versuchen, eine Rolle. Aber das ist eben nicht alles.

Wer den Slogan „Nie wieder Krieg“ ernst nimmt, tut gut daran, sich zu fragen: Wer trägt die Hauptverantwortung für den Klimawandel, der Ägyptens Furcht um sein Wasser mit antreibt – wenn nicht die Industriestaaten des globalen Nordens? Haben das koloniale Erbe und die ungerechte internationale Wirtschaftsordnung etwa nichts mit der Armut in Äthiopien zu tun?

Ja, das Beispiel mag im wörtlichen und übertragenen Sinne „weit hergeholt“ erscheinen. Aber vielleicht illustriert es gerade deshalb ganz gut die sehr gegenwärtige Verpflichtung, die sich mit dem Glück verbindet, vor 75 Jahren vom Nazi-Regime und vom selbst entfesselten Krieg befreit worden zu sein. Kurz gesagt: Wer die Forderung „Nie wieder Krieg“ wenigstens in kleinen Schritten einlösen möchte, muss um eine Weltordnung ringen, die Gewalt unwahrscheinlicher macht.

8. Mai als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus: Stalin mildert nicht die deutsche Schuld

Das gilt für Afrika, wo Deutschland und die EU sich leider einerseits auf wenig erfolgreiche Militäreinsätze wie in Mali konzentrieren und andererseits auf die Abwehr von Menschen, die vor den ungelösten Konflikten fliehen. Es gilt für Russland, dessen oft irritierender und provozierender Außenpolitik kaum angemessen begegnen wird, wer das kollektive Trauma der mindestens 25 Millionen sowjetischen Kriegstoten weitgehend ignoriert (ja, auch Stalin war ein brutaler Diktator, aber das rechtfertigt weder eine Gleichsetzung mit Hitler, noch mindert es die deutsche Schuld).

Die Liste lässt sich leicht verlängern: um Israel, dessen Existenzrecht wir Deutschen bei aller berechtigten Empörung über den aktuellen politischen Kurs nie in Frage stellen dürfen; um Polen, dessen oft übersteigerten Nationalismus und dessen Fixierung auf antirussische Denkschemata wir umso glaubwürdiger kritisieren können, je besser wir sie auch als Spätfolge des von Deutschland begonnenen Krieges begreifen; um Griechenland, wo sich die emotionale Wirkung des EU-Spardiktats nach der Finanzkrise durch die Erinnerung an deutsche Kriegsverbrechen in dem Land verständlicherweise noch steigerte.

8. Mai als Befreiung vom Nationalsozialismus: Es geht um mehr als Gedenkrituale

Gründe, uns die Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft immer wieder vor Augen zu führen, um uns ganz gegenwärtig der Möglichkeit einer besseren Politik zu besinnen, finden wir also fast überall – auch und nicht zuletzt hier bei uns. Die Kräfte, die anderen das Recht auf gleiche Rechte absprechen wollen, sind stärker geworden. Auch diejenigen, die – lange von offizieller Seite verharmlost – Angehörige von Minderheiten und deren Unterstützer körperlich bedrohen oder gar ermorden. Wer die Hoffnung nicht aufgegeben hat, die Gesellschaft gegen solche Menschenverachtung einigermaßen zu immunisieren, tut gut daran, den Nachgeborenen zu zeigen, was Deutsche einmal manchen Schülerinnen oder Lehrern ihrer Schule angetan haben. Und was Krieg damals aus der Stadt gemacht hat, in der sie heute leben.

Es geht, wie sich zeigt, um viel mehr als Gedenkrituale. Es geht um geschichtsbewusste Außen- und Friedenspolitik (wozu die Idee, den USA eines Donald Trump den Kauf nuklearfähiger Kampfbomber in Aussicht zu stellen, eher nicht zählt). Es geht aber auch um den Einsatz für ein politisches Handeln, das sich von falschen und konfliktfördernden Routinen befreit, zum Beispiel – siehe den äthiopischen Staudamm – in der Klima- und Wirtschaftspolitik.

Vieles spricht dafür, den Tag der Befreiung tatsächlich zum offiziellen Feiertag der Bundesrepublik zu machen. Zu feiern wäre nicht nur rückblickend die Befreiung der Deutschen von Krieg und Terrorherrschaft. Zu erinnern wäre vor allem daran, dass Befreiung nicht vollendet sein kann, solange die Ursachen von Unfreiheit und Gewalt weiterbestehen. Anlass dazu wird es leider noch viele Jahre lang geben. Nicht nur am 8. Mai. 

Von Stephan Hebel

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