Zu wenig Internet

Nein, es gibt nicht nur Hass und Hetze: Im Netz verbreitet sich auch das Wissen über Empathie und Respekt. Die Kolumne „Update“.
Im November 2022 musste die britische Hofdame Susan Hussey zurücktreten, weil sie sich bei einem Empfang unhöflich benommen hatte. Sie hatte die Gründerin einer gemeinnützigen Organisation, Ngozi Fulani, wegen deren Hautfarbe sehr hartnäckig immer wieder „ja, aber wo kommen Sie wirklich her?“ gefragt. Fulani ist in Großbritannien geboren und in London aufgewachsen. Als ich von dem Vorfall las, zog ich die Luft durch die Zähne vor Fremdscham und Mitleid mit beiden Parteien. Mit Fulani, weil sie in dieser Situation sicher nicht zum ersten Mal in ihrem Leben war. Und mit Hussey, weil ich bis vor wenigen Jahren selbst wahrscheinlich genauso blöd gefragt hätte. Ich kann nachvollziehen, was Husseys Umfeld und etwas später auch sie selbst sagte: Es sei nicht mit Absicht passiert und nicht rassistisch gemeint gewesen; sie habe es quasi nicht besser wissen können.
Hätte sie aber doch. Dass dieses Benehmen falsch und unhöflich ist, steht in letzter Zeit wirklich überall. Also überall im Internet, in Text und Video immer wieder erklärt von denen, die diese Frage zu oft gestellt bekommen haben. Hussey war zum Zeitpunkt des Vorfalls 83 Jahre alt und hat wahrscheinlich nicht viel Zeit im Internet zugebracht.
Von der Verrohung der Sitten durchs Internet und insbesondere durch soziale Netzwerke ist oft zu lesen. Ich neige zu dem Glauben, dass diese rohen Sitten vorher schon existierten und im Internet nur öffentlich sichtbarer werden. Aber ich bin nur eine voreingenommene Kolumnistin und recherchiere jetzt nicht extra, ob doch was dran ist, das kann man bestimmt an vielen anderen Orten nachlesen. Hier soll es um das Gegenteil gehen: Im Internet verbreitet sich auch Wissen über Empathie und respektvolles Benehmen, das vorher nicht leicht zu erlangen war.
Wie man beim Kontakt mit Menschen anderer Hautfarbe nicht ausgerechnet eine der unhöflichsten Fragen stellt, war zwar bestimmt schon bekannt, als Susan Hussey ihre Ausbildung zur Hofdame gemacht hat und das Internet noch Radio hieß. Auch Angehörige anderer Gruppen, die oft rücksichts- oder respektlos behandelt werden, wussten damals schon, welche Umgangsformen sie sich wünschen.
Manches ist durch das Internet, also innerhalb der vergangenen 20 bis 50 Jahre, hinzugekommen: Viele Menschen haben so erst herausgefunden, dass sie nicht nur individuell ein bisschen anders, sondern Teil einer Gruppe sind, der es genauso geht und die oft auf dieselbe Art grob behandelt wird. Es ist leichter geworden, die daraus resultierenden Ratschläge („Zehn Dinge, die Menschen ohne Orientierungssinn nicht mehr hören können“) der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Die sozialen Netzwerke haben nur noch ein letztes Element beigetragen: Als gutwilliger Mensch, der eigentlich niemanden beleidigen möchte, muss man nicht wissen, dass eine bestimmte Gruppe existiert und dass sie immer wieder auf dieselbe Weise gekränkt und genervt wird. Man muss auch nicht wissen, wo die Weiterbildungstexte und -videos zu finden sind. Beides bekommt man von allen Seiten mitgeteilt, ohne danach gefragt zu haben.
Nur dadurch bin ich über so einige Fettnäpfe aufgeklärt worden. Zu Hause ist das nicht passiert (meine Verwandtschaft ist nicht gerade für ihre Feinfühligkeit bekannt), in der Schule sowieso nicht, und in der Zeit, in der ich ganz allein für den Ausbau meiner Umgangsformen zuständig war, auch nur stellenweise.

Es ist nämlich nicht so, dass man nur ein einziges Mal begreifen muss, wie man andere Menschen respektvoll behandelt, und dann nur noch die Transferleistung auf alle neuen Situationen zu erbringen braucht. Sicher hilft es, die Grundlagen zu verstehen, aber das hat bei Lady Hussey nicht gereicht, und es reicht auch bei weniger gut ausgebildeten Menschen nicht. Adolph Freiherr Knigge gibt in „Über den Umgang mit Menschen“ 1788 ein paar auf „Menschen aus allen Ständen und Gegenden“ anwendbare Ratschläge, aber dann folgen spezifische Anleitungen für den Umgang mit bestimmten Gruppen: Frauenzimmer, Diener, Wirte, Fürsten, Mitglieder geheimer Verbindungen. Und er scheitert da, wo er eben nicht in eigener Sache und aus eigener Erfahrung schreibt. Es ist ein menschenfreundliches und an vielen Stellen immer noch nützliches Ratgeberbuch, aber Knigges Ratschläge zum Umgang mit Juden sind, ich sage es mal höflich, nicht gut.
Auch Fachleute für Umgangsformen sind also darauf angewiesen, einfühlsames Benehmen für jede neue Gruppe von Menschen neu zu lernen. Das Weiterbildungsmaterial muss aus diesen Gruppen kommen, nicht von wohlmeinenden Umgangsbuchautor:innen. Und wenn man uns nicht von allen Seiten mit diesem Material bewirft, ignorieren wir es so lange, bis wir dann mit 83 den Beruf als Hofdame verlieren. Man kann nämlich nicht nur zu viel Zeit in sozialen Netzwerken verbringen, sondern auch zu wenig. Und das kommt dann davon.