1. Startseite
  2. Kultur

Update: Stau im Browser

Erstellt:

Von: Kathrin Passig

Kommentare

Unpraktisch: Viele aufgeschlagene Bücher.
Unpraktisch: Viele aufgeschlagene Bücher. © PantherMedia

Während ich diese Kolumne schreibe, habe ich 132 Tabs in meinem Browser geöffnet.

Für den Fall, dass Ihnen das nichts sagt, weil Sie zum Beispiel meine Mutter sind: Der Browser ist das Ding, mit dem man das Internet betrachtet, also Firefox oder Safari oder Chrome. Tabs sind die digitale Version von gestapelten Karteikarten. Man kann sich das ungefähr vorstellen wie einen Schreibtisch mit 132 aufgeschlagenen Büchern, und genauso unpraktisch ist es auch.

Aber auch genauso praktisch! Manche brauche ich alle paar Stunden, und sie immer offen zu haben ist bequemer, als sie jedesmal wieder zu öffnen. Andere benutze ich als Erinnerung daran, dass ich etwas lesen oder erledigen wollte. Meine Tabs sind ausgelagerte Gehirnfunktionen, so wie bei anderen Leuten ein Notizbuch, eine To-do-Liste oder die ungelesenen Bücher neben dem Bett.

Bei den meisten Menschen, deren Tab-Situation ich kenne, sind es weniger. Manche streben an, immer nur eins oder wenigstens nicht mehr als die gerade für die Arbeit unbedingt nötigen acht geöffnet zu haben. Aber ich bin auch kein Extremfall. Der Informatiker Arvind Narayanan berichtete vor einigen Tagen bei Twitter davon, wie er versehentlich auf eins seiner 150 Tabs klickte und darin die Antwort auf genau die Forschungsfrage vorfand, die ihn gerade beschäftigte. Das Tab hatte er seit 2019 offen. „Das ist der Moment, auf den ich gewartet habe, und ich habe mir vorgenommen, nie wieder ein Tab zu schließen.“ In den Kommentaren tauchen Leute auf, die von sich sagen, dass sie eine vierstellige Anzahl von Tabs dauerhaft geöffnet haben.

Hier schreibt Kathrin Passig jede Woche über Themen des digitalen Zeitalters. Sie ist Mitbegründerin des Blogs „Techniktagebuch“. www.kathrin.passig.de
Hier schreibt Kathrin Passig jede Woche über Themen des digitalen Zeitalters. Sie ist Mitbegründerin des Blogs „Techniktagebuch“. www.kathrin.passig.de © privat

Dieser Diskussion entnehme ich den Hinweis auf eine 2021 erschienene Veröffentlichung über den Umgang mit Tabs, die Sie unter dem Titel „When the Tab Comes Due“ finden können. Für die Studie wurde das Verhalten von zehn Universitätsangehörigen, die „eine relativ große Menge Tabs nutzen“, zwei Wochen lang untersucht. Eine „relativ große Menge“ bedeutete dabei „zwölf oder mehr“, aus meiner Sicht also gar nichts, ein leerer Schreibtisch. Aus den Antworten der Befragten ergibt sich, dass es nur vier Gründe gibt, Tabs zu schließen, aber sechs, sie offen zu lassen. Gründe für das Schließen sind: 1. Die vielen offenen Tabs stören die Konzentration. 2. Der Platz auf dem Monitor ist knapp. 3. Rechenleistung und Arbeitsspeicher des Geräts sind knapp. Auf den vierten Grund wäre ich nicht von allein gekommen: Andere Leute könnten einen für unorganisiert halten, wenn sie sehen, wie viele Tabs man offen hat. Manche Menschen räumen offenbar ihren Browser auf, bevor ihn – zum Beispiel bei einem Vortrag – jemand zu sehen bekommen könnte, so wie andere die Wohnung aufräumen, wenn Besuch kommt.

Zwei der Offenhaltegründe habe ich bereits genannt: Erinnerungen an zu Erledigendes, und Tabs, die man sowieso ständig braucht. Dazu kommt drittens: Wichtiges vorsichtshalber offenhalten, weil man beim aktuellen Stand der Suchtechnik ja doch nichts wiederfindet. Viertens hoffen wir immer, eines Tages eine Person zu werden, die alles lesen kann, was sie sich vorgenommen hat. Heute komme ich nicht dazu, diesen superinteressanten Text zu lesen, aber vielleicht am Wochenende! (Drei Jahre später ist die Seite immer noch offen und der Text ungelesen.) Fünftens helfen die Tabs dabei, beim Arbeiten die Gedankenverzweigungen sichtbar und handhabbar zu machen. Die sechste Begründung ist genau wie in der Garage oder Bastelwerkstatt: Das heb’ ich auf, das kann man irgendwann noch mal brauchen.

Tabs gibt es erst seit der Jahrtausendwende. Vorher brauchten wir sie nicht so dringend, es gab sowieso kaum etwas zu sehen im Internet. Davon abgesehen wären unsere Geräte auch zu schwächlich gewesen. Aber seit Tabs erfunden wurden, habe ich immer das Maximum ausgereizt, das mein Gerät und mein Gehirn gerade noch so bewältigen konnten. Irgendwann muss ich in der Lage gewesen sein, mit nur zehn, zwanzig, vierzig offenen Tabs zu arbeiten. Vorstellen kann ich mir das nicht mehr, dabei hat sich an der Art meiner Arbeit eigentlich nichts geändert. In der Diskussion unter Narayanans Beobachtung denkt jemand diesen Gedanken einen Schritt weiter und kommt zu dem Schluss, dass es sich mit Browser-Tabs genau wie mit mehrspurigen Straßen verhält: Man hofft, dass der Bau einer weiteren Fahrspur endlich den Stau beseitigen wird. Stattdessen locken die neuen Fahrspuren nur immer mehr Autos an und am Stau ändert sich gar nichts.

Ich weiß das jetzt, aber Konsequenzen möchte ich daraus keine ziehen. Meine offenen Tabs zerstören schließlich nicht die Landschaft (nein, auch nicht indirekt, ihr Stromverbrauch ist ein kleiner Teil des Stromverbrauchs eines kleinen Laptops). Seit ich weiß, dass andere Leute vierstellige Tab-Zahlen haben, träume ich von den herrlichen Autobahnkreuzen, die ich dadurch in meinen Gedankengängen errichten könnte. Gebt mir tausend Tabs und dann noch hundert, dann tausend weitere, dann ein zweites Mal hundert! Einen aufgeräumten Browser kann ich haben, wenn ich tot bin.

Auch interessant

Kommentare