Update: Nichts zu sagen

Gmail auf KI-Basis: Der Albtraum ist da“, unter diesem Titel schrieb der US-Journalist John Herrman Mitte März über ein Google-Werbevideo. Die Kolumne „Update“.
Das Video erklärt die neuen Texterzeugungsfähigkeiten von Gmail und Google Docs. Schon seit 2018 konnte man sich in Gmail in manchen Sprachen beim Schreiben von E-Mails individuelle Formulierungs- und Antwortvorschläge machen lassen.
In Zukunft wird Gmail ganze Mails schreiben oder umformulieren können. „Tim kann jetzt vier Mal so viele E-Mails verschicken wie bisher. Hat er auch vier Mal so viel zu sagen?“, fragt Herrman. Diese Frage ist schon ziemlich oft gestellt worden, rhetorisch natürlich. Nein, denken wir beim Lesen, natürlich kann Tim in Zukunft nicht vier Mal so viel zu sagen haben wie jetzt. Stattdessen wird er seine Nachrichten auf noch mehr Mails verteilen, in denen dann noch weniger drinsteht. Horror! Aber so klar ist das eigentlich gar nicht.
Das Standardzitat zum Thema Nichts-zu-sagen-Haben stammt aus Henry David Thoreaus 1854 erschienenem Buch „Walden oder Leben in den Wäldern“: „Wir haben es äußerst eilig, eine telegrafische Verbindung zwischen Maine und Texas herzustellen, aber vielleicht haben Maine und Texas sich gar nichts mitzuteilen. Beide befinden sich in der peinlichen Lage dessen, der einst unbedingt einer berühmten, schwerhörigen Frau vorgestellt werden wollte, und als das geschah und er ihr Hörrohr vor sich hatte, wusste er nichts zu sagen.“
Aber das stimmte schon beim Telegrafen nicht. Vielleicht konnte Thoreau sich nicht vorstellen, was „Maine und Texas“ einander Wichtiges mitzuteilen haben könnten. Wahrscheinlicher ist, dass er es sich gut vorstellen konnte und es persönlich nicht wichtig fand. „Wir sind darauf erpicht“, schreibt er weiter, „durch unterseeische Kabel die Alte und die Neue Welt einander um ein paar Wochen näher zu bringen; doch die erste Nachricht, die dann vielleicht an unser tolerantes amerikanisches Ohr dringt, ist die, Prinzessin Adelaide habe den Keuchhusten.“
Das mag auch eine Nachricht gewesen sein, die telegrafisch übermittelt wurde, aber es ging im neuen Medium sicher nicht ausschließlich um Klatsch aus Königshäusern. Thoreau muss das gewusst haben. Es macht nur weniger Spaß, sich darüber zu beschweren, dass im neuen Medium unter anderem auch Dinge mitgeteilt werden, die nicht wichtig sind. Das ist das erste Problem dieses Arguments: Es ist zu billig.
Zweitens ist es ahistorisch. Schon der jetzige Zustand der Kommunikation ist kaum auszuhalten, schwingt darin mit. Deshalb wäre es besser, wenn das Kommunizieren mühsamer wäre, so mühsam wie vor zehn, 20 oder 50 Jahren. Dann würden wir alle mehr nachdenken, bevor wir uns äußern, nur das wirklich Wichtige mitteilen. Weiter als maximal 50 Jahre, also etwa zur Zeit vor dem Telefon oder vor dem Buchdruck, will niemand zurück. Das macht den Wunsch verdächtig.

Wenn größere Mühe beim Schreiben von allein dazu führen würde, dass nur das Beste vom Besten festgehalten wird, wären Keilschrifttafeln aber nicht voll mit Steuer- und Verwaltungsangelegenheiten. Das ist das dritte Problem der rhetorischen Frage, ob Tim überhaupt genug zu sagen hat. Aus ihr spricht die Überzeugung, es werde bereits alles Aufzeichnenswerte aufgezeichnet und dann noch so einiges darüber hinaus.In der Zeit vor der E-Mail war man wahrscheinlich auch schon der Ansicht, die Anzahl der pro Woche verschickten Geschäftsbriefe sei übertrieben hoch. Aber dann fiel doch allen wieder genug Inhalt für das neue Medium ein.
Die Entwicklung des Kommunikationsgeschehens seit der Keilschrifttafel deutet nicht darauf hin, dass Maine und Texas oder Tim und der Rest der Welt einander nichts oder nur eine irgendwann erreichte Menge von Dingen zu sagen haben. Nicht einmal dann, wenn man den Keuchhusten von Prinzessin Adelaide aus der Menge des sinnvoll Sagbaren ausschließen möchte. Ich halte das für falsch, obwohl ich mich für Prinzessinnenhusten so wenig interessiere wie Thoreau. Alle, die schon mal von ihren Eltern oder vielleicht sogar Ehepartnern ermahnt worden sind, bei dem vielen Reden / Telefonieren / Internet würden doch gar keine wichtigen Informationen ausgetauscht, müssten eigentlich wissen, dass man von außen sehr schlecht erkennen kann, wie sinnvoll die Kommunikationsvorgänge anderer Menschen sind.
Ich schreibe diesen Text aus immer neuen Anlässen seit 25 Jahren. Software, die meine Texte und Quellen kennt, müsste eigentlich in der Lage sein, zumindest die ersten zwei Drittel automatisch zu erzeugen. Nur der Schluss enthält einen neuen Aspekt. Aber ich habe kein schlechtes Gewissen. Es entstehen ja auch ständig neue Texte darüber, dass Maine und Texas einander nichts zu sagen haben.